Wenn man die Englischlehrerin Sarah fragt, warum sie Hongkong verlassen will, erzählt sie von einer ihrer Unterrichtsstunden. Sie beschreibt eine Episode, die viel darüber aussagt, wie das Gift der Diktatur langsam, aber stetig in die Hongkonger Gesellschaft einsickert. Laut Lehrplan soll Sarah ihren Schülern die Fähigkeit zu kritischem Denken beibringen. Einer ihrer Schüler, 16 Jahre alt, kritisierte die chinesische Null-Covid-Politik. Ein anderer stand auf und schrie ihn an: „Du darfst die chinesische Regierung nicht kritisieren.“
Früher hätte Sarah dem Schreihals dann erklärt, dass jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe. Stattdessen sagte sie: „Natürlich unterstützen wir alle die chinesische Regierung.“ Andernfalls hätte ihr Schüler sie womöglich bei der Schulleitung angeschwärzt. „Ich habe mich so geschämt“, sagt Sarah später im Gespräch in einem dieser großen Einkaufszentren, in die die Hongkonger sich vor der Hitze flüchten. Es sei hart, Schülern etwas beizubringen, an das man selbst nicht glaubt.
Sarah und ihr Mann, ein Sozialarbeiter, wandern in diesem Sommer nach Großbritannien aus. Sie gehören zu den 540.000 Hongkongern, die sich nach den Massenprotesten von 2019 einen „Britischen Überseepass“ besorgt haben. Mit dem Dokument haben sie Anrecht auf eine Arbeitserlaubnis in Großbritannien und können nach sechs Jahren britische Staatsbürger werden. Die beiden sind Teil einer großen Auswanderungswelle. Australien, Kanada und Taiwan sind weitere beliebte Zielländer. In Australien hat sich die Zahl der Einwanderer aus Hongkong in einem Jahr mehr als verdreifacht.
Politiker, Familien, junge Paare fliehen
Der Exodus begann vor zwei Jahren mit der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes. Das Gesetz ist so vage, dass keiner genau weiß, was in Hongkong noch erlaubt ist. Als Erstes flohen die Aktivisten und Politiker, die eine Festnahme fürchten mussten. Es folgten Familien, die nicht wollten, dass ihre Kinder in der Schule Lügen eingetrichtert bekommen. Und junge Paare, die nach der Zerschlagung der Protestbewegung keine Zukunft mehr sahen.
Zuletzt gingen die Ausländer und hoch bezahlten Fachkräfte, die sich die strikte Null-Covid-Strategie nicht länger antun wollten. Allein seit Anfang dieses Jahres sind laut Statistik der Zollbehörde rund 130.000 Hongkonger mehr aus- als eingereist. Inzwischen gehört es in Hongkong zum Begrüßungsritual zu fragen, warum man noch da sei.
All das wird Chinas Staatschef Xi Jinping verschweigen, wenn er am kommenden Freitag eine Grundsatzrede über die Zukunft der Stadt halten wird. An jenem Tag jährt sich die Rückgabe der früheren britischen Kronkolonie an China zum 25. Mal. Xi wird es als einen seiner großen Erfolge darstellen, in Hongkong „Stabilität“ geschaffen zu haben. Als Nächstes will er „das emotionale Band“ zwischen Hongkong und dem übrigen China festigen.
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