Bericht eines Überläufers: Eigene Propaganda beeinflusst Russlands Außenpolitik

Zwanzig Jahre hat Boris Bondarjew für das russische Außenministerium gearbeitet. Wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine hat der den Dienst unter Protest gekündigt – als bisher einziger russischer Diplomat. „Der Angriffskrieg, den Putin gegen die Ukraine und die ganze westliche Welt entfesselt hat, ist nicht nur ein Verbrechen gegen das ukrainische Volk, sondern vielleicht auch das größte Verbrechen gegen das Volk Russlands, in dem er alle Hoffnungen und Aussichten auf eine blühende freie Gesellschaft in unserem Land durchstreicht“, schrieb Bondarjew in einer am 23. Mai veröffentlichten Erklärung.

In einem Artikel für die amerikanische Zeitschrift „Foreign Affairs“ und in Interviews in von Amerika finanzierten russischsprachigen Medien hat der 42 Jahre alte Bondarjew nun seine Beweggründe für den öffentlichen Bruch mit dem russischen Staat geschildert. Er gibt dabei aufschlussreiche Einblicke in das Innenleben des russischen Außenministeriums. Dem Internetfernsehsender Currenttime.tv sagte Bondarjew, er wolle zeigen, wie die russische Diplomatie seit Anfang seiner Karriere zu Beginn der Zweitausender Jahre, „als unsere Außenpolitik mehr oder weniger adäquat war“, zum jetzigen „Tiefpunkt gelangt ist, an dem sie sich zu einem Anhängsel der propagandistischen Maschine des russischen Staats verwandelt hat“.

Die westlichen Führer hätten während des Krieges gegen die Ukraine die Mängel der russischen Armee begriffen, schreibt Bondarjew in „Foreign Affairs“: „Aber sie verstehen anscheinend nicht, dass die russische Außenpolitik genauso ruiniert ist.“

„99 Prozent der Arbeit des Außenministeriums sind ihrem Wesen nach heute Propaganda“, sagte er dem russischen Dienst von Radio Liberty. Anhand von Beispielen beschreibt Bondarjew, der zuletzt in der Vertretung Russlands bei den Vereinten Nationen in Genf arbeitete, wie im Außenministerium die Wahrnehmung der Welt außerhalb Russlands immer stärker von der eigenen Propaganda bestimmt wurde: „Moskau wollte das hören, worauf es hoffte, und nicht das, was wirklich passiert ist.“ Diplomaten, die diese Erwartung erfüllten, seien aufgestiegen. „Das haben alle unsere Botschafter verstanden – und so begann ein unausgesprochener Wettbewerb, wer wen übertrumpft.“ Die „Körner der Wahrheit“ in ihren Depeschen hätten sie „unter den Donnern der Propaganda“ begraben.

Verwirrung über Dokumente aus dem Kreml

Als ein Beispiel dafür nennt er das Scheitern einer von Russland eingebrachten Resolution bei der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPWC) nach dem Giftanschlag auf den ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal und dessen Tochter in Großbritannien 2018: Diese Niederlage sei von den zuständigen Diplomaten in einem einzigen Satz eines langen Berichts versteckt worden, in dem ausführlich geschildert wurde, wie die russischen Delegierten „antirussische“ Vorwürfe des Westens erfolgreich zurückgewiesen hätten.

Den Anschlag auf die Skripals stellt Bondarjew als einen Wendepunkt in seiner langsamen Entfremdung von seinem Arbeitgeber dar. Er habe erst nicht an eine russische Beteiligung geglaubt, schreibt er in „Foreign Affairs“. Er habe sich „aufrichtig“ an den Versuchen beteiligt, das Ausland davon zu überzeugen, dass Russland nicht beteiligt war. Doch die Substanzlosigkeit der russischen Dementis ließ seine Zweifel wachsen: „Ich weiß, wie schwer es ist zu verstehen, dass dein Land von Verbrechern regiert wird, die bereit sind, aus Rache zu töten.“ Was ihn bis zum Krieg gegen die Ukraine noch im Ministerium gehalten habe, sei die Angst vor der Zukunft nach einer Kündigung gewesen.

Die Propaganda in den internen Berichten des Außenministeriums und die Unmöglichkeit, kritische Anmerkungen zu Anordnungen aus dem Kreml zu machen, hätten mit den Jahren zu einem immer gefährlicheren „Bruch in der Verbindung mit der Realität“ geführt, schreibt Bondarjew. Als im Januar 2022 in Genf russisch-amerikanische Gespräche über die Moskaus Vorschläge für eine neue Friedensordnung in Europa stattfanden, habe unter seinen Kollegen Verwirrung geherrscht. Ihnen sei klar gewesen, dass die russischen Forderungen – etwa die faktische militärische Rückabwicklung der NATO-Erweiterungen ab 1997 – für Amerikaner und Europäer unannehmbar waren. „Am Ende haben wir erfahren, dass das Dokument direkt aus dem Kreml kommt.“

Kriegerische Stimmung unter Russlands Diplomaten

Damals habe er gehofft, schreibt Bondarjew, dass seine Kollegen wenigstens in privaten Gesprächen Alarmstimmung zeigen würden. Doch viele hätten „der Kreml-Lüge“ bereitwillig zugestimmt. So hätten sie sich und andere überzeugt, dass sie keine Verantwortung für Russlands Handeln trügen sondern nur Anordnungen ausführten: „Das konnte ich noch verstehen.“ Viel mehr habe ihn beunruhigt, schreibt Bondarjew, „dass unser immer kriegerischeres Verhalten bei vielen Stolz hervorgerufen hat“. Unmittelbar nach Kriegsbeginn habe bei vielen Hochstimmung geherrscht.

Aus familiären Gründen dauerte es drei Monate, bis Bondarjew öffentlich kündigte. In dieser Zeit sei die Rhetorik der Kollegen angesichts der militärischen Misserfolge düsterer, aber nicht weniger kriegerisch geworden. Russland müsse mit einem Atomsprengkopf einen „Vorort von Washington“ treffen, dann „machen die Amerikaner in die Hosen und bitten uns um Frieden“, habe ein Experte für ballistische Raketen gesagt. Andere hätten in privaten Gesprächen zwar zugegeben, dass die Lage wahnsinnig sei, „aber auf ihre Arbeit hat sich das nicht ausgewirkt. Sie lügen weiter von der ukrainischen Aggression.“

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