Es war seine erste große Rede als Bundeskanzler, und sie war so vorhersehbar wie schnell vergessen. Im Hintergrund das Reichstagsgebäude, der gleiche Weihnachtsbaum, die gleichen Fahnen wie bei seiner Vorgängerin.
Olaf Scholz, gefaltete Hände, ernstes Gesicht, sprach damals, vor fast einem Jahr, von Herausforderungen, gemeinsamem Unterhaken und von unterschiedlichen Meinungen zu Corona, dieser Pandemie, die nach 21 Monaten immer noch nicht vorbei war; keine großen Silvesterfeiern im Anschluss.
Die 21 Monate hatten bei sehr vielen Menschen an den Kräften gezehrt – und Schlimmeres. Das wusste nicht nur der neue Kanzler, und noch war da keine Gewissheit, dass mit dem neuen Jahr das Ende der Pandemie beginnen könnte. Dass endlich alles besser würde.
Tatsächlich wurde alles sehr viel schlechter, obwohl das Virus sein Bedrohungspotenzial verlor. Tatsächlich gab es Krieg. Aber trotz – in mancher Hinsicht auch: wegen – der dramatischen Entwicklung, die das Jahr sehr schnell nehmen sollte, wurde 2022 ein Jahr der Freiheit.
Ein Jahr, in dem an mehreren Orten der Welt so mutig und radikal für die Freiheit gekämpft wurde, wie es viele nicht mehr für möglich gehalten hatten. In dem der Wert der Freiheit so hochgeschätzt wurde wie schon lange nicht nicht mehr. In dem Länder zusammenhielten, um diese Freiheit zu verteidigen. Das waren die großen Momente 2022.
Nicht, dass das Wort Freiheit zuvor nicht allgegenwärtig gewesen wäre. Während der Zeit der Pandemie und der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus rückte sehr vielen Menschen ins Bewusstsein, wie fragil, wie wertvoll war, wovon Generationen mindestens in der westlichen Welt ganz selbstverständlich ausgegangen waren.
Ein neues Gefühl von Bedrohung
Mitunter wurde Freiheit auch zu einem Kampfbegriff, gelegentlich eingesetzt jenseits des eigentlichen Wortsinns, Indiz einer längst beschriebenen und beklagten Spaltung der Gesellschaft. In der Populisten und Extremisten von rechts mit Unfreiheit genauso liebäugelten wie cancelnde Identitätspolitiker von links.
Viele jüngere Deutsche und Europäer aber hatten nun zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass ihr Leben von einer äußeren Lage existenziell bedroht wurde. Das sollte sich 2022 auf andere Weise dramatisch wiederholen.
Ende Februar überfiel Russland die Ukraine und begann den Angriffskrieg in Europa, der bis heute andauert. Wenige Tage später hielt wiederum Olaf Scholz eine Rede, die, anders als die Silvesteransprache, sofort und bis heute als seine wichtigste Rede empfunden wurde. Es ging darin bekanntlich viel um das Wort Zeitenwende.
Die Regierung verabschiedete sich von einigem, was bis dahin Gewissheit deutscher Außenpolitik gewesen war, kündigte Waffenlieferungen an (wie es damit weiter ging, ist leider bekannt) und sehr viel Geld für Rüstung. Sie versprach, Verantwortung zu übernehmen (wie es damit weiter geht, ist im Moment noch nicht absehbar). Es waren verteidigungspolitische Entscheidungen, aber „Zeitenwende“ wurde für viele Bürger das Wort, das die folgenden Monate exakt beschrieb.
Der Krieg war eine Realität, mit der auf naive Weise kaum jemand gerechnet hatte, kaum 1000 Kilometer entfernt von warmen, sicheren deutschen Wohnzimmern. Freiheit in Sicherheit wurde zu etwas, das verteidigt werden musste. Die Krater, die russische Bomben hinterließen, die einstürzenden Häuser und Orte, die verletzten, toten Zivilisten, die versehrte Zivilisation.
Die Szenen von Familien, die sich verabschieden mussten, die Züge mit Flüchtlingen, die in Deutschland ankamen, Bilder, wie sie die meisten Deutschen nur noch aus Büchern kannten. Und die Aufnahmen von Ukrainern und Ukrainerinnen, die begannen – wenn kein Pathos hier, wann dann –, mit ihren Händen und ihrem Leben ihr Land zu verteidigen.
Demokratie ist kein Selbstläufer
Es war auch diese Energie, diese Wut, die, zusammen mit der einsetzenden Unterstützung aus dem Ausland – entgegen erster Wahrscheinlichkeiten angesichts der Kräfteverhältnisse – dafür sorgte, dass die Ukraine sich erfolgreich wehrte gegen den Überfall des Aggressors aus Russland. Gegen das, was der Diktator im Kreml geplant hatte.
Auch Tausende Kilometer weiter verstand man, dass diese Energie viel zu tun hatte mit dem Kampf um Freiheit – der Freiheit eines Landes, aber auch eines Systems, des demokratischen. Dass dieses System kein Selbstläufer ist, dämmerte vielen Menschen in den vergangenen Jahren zwar immer mal wieder – angesichts der Konjunktur, die autoritäre Führer offenkundig hatten, sogar in westlichen Staaten. Putin war längst nicht der einzige, der Illiberalität für attraktiv hielt.
Und einige seltsame Momente lang schienen zu Beginn der Pandemie autoritäre Regime sogar einen Reiz auf diejenigen auszuüben, die sie normalerweise ablehnten, als diese die Krise vermeintlich besser in den Griff zu bekommen schienen als demokratische. Dieser Irrtum hat sich inzwischen aufgeklärt. Ebenso wie der Irrtum, dass es Gesellschaften gäbe, in denen sich Menschen aussuchen, unterdrückt zu werden.
Knapp über 100 Tage dauern inzwischen die Proteste im Iran. Sie begannen, nachdem die 22-jährige Mahsa Amini in Haft und nach Zugriff der Sittenpolizei des Mullah-Regimes zu Tode kam. Mehr als 100 Tage, in denen sich zunächst junge und sehr junge, dann sehr viele Iranerinnen und Iraner auflehnten gegen die Allmacht der Kleriker, gegen die Enge ihres Lebens und Landes.
Schulkinder, die sich die Kopftücher herunterreißen, alte Frauen, die auf die Straßen gehen, Väter, die für die Freiheit ihrer Töchter aufbegehren. Je mehr es wurden, desto brutaler schlug das Regime zurück, es versucht inzwischen, die Bewegung mit Todesurteilen zu brechen. Aber die Demonstranten ließen und lassen sich nicht aufhalten, und sie kamen bald aus allen Schichten.
Der Protest, und das war neu, überwand soziale und ethnische Unterschiede. Viele Menschen setzen im Iran aus Freiheitswut und Freiheitsmut weiter jeden Tag ihr Leben aufs Spiel. Zurück, sagen sie, können sie nicht mehr. Die von den Frauen begonnene Revolution dauert an, sie ist die größte Hoffnung auf Freiheit seit 1979.
Die Mutigen wissen, was ihnen droht
Schließlich begannen auch Menschen in China, sich aufzulehnen, in einer Organisiertheit, in einer Gleichzeitigkeit an mehreren Orten, die neu war. Gegen die Covid-Politik der Regierung und ihre Folgen. Gegen das Regime. Trotz allem, was ihnen drohte – und wenig ist es nicht.
Und da sind die Frauen, die sich in Afghanistan dagegen wehren, von den Universitäten ausgeschlossen zu werden. Da sind männliche Studenten, die Prüfungen verweigern, solange das so bleibt. Jeder Einzelne von ihnen weiß, was die Folgen sein können. Sie tun es dennoch.
Es sind Anfänge, die gemacht wurden. Mit einem Mut, dessen Dimension wir nur erahnen können. Aber womöglich versuchen immer mehr Menschen in Deutschland, sich das klar zu machen. Offenbar ist vielen bewusst geworden, dass Freiheit einen Wert hat – und manchmal einen Preis. Trotz Inflation, trotz Energiekrise und persönlicher Belastung ist die Bereitschaft, den Freiheitskampf der Ukraine zu unterstützen, nur leicht zurückgegangen. Der befürchtete Einbruch blieb aus.
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