Herr Oberbürgermeister, ist die nordrhein-westfälische SPD noch zu retten?
Sie hat beste Erfolgsaussichten, wenn sie sich zusammenrauft, ihre Strategie schärft und klärt, wen sie ansprechen, vor allem, was sie für das Land erreichen will.
Bei der Landtagswahl vor bald einem Jahr erlitt Ihre Partei mit 26,7 Prozent ein historisches Debakel . . .
. . . ein absoluter Tiefschlag. Die NRW-SPD war immer stolz auf ihre Verbindung zu den Menschen, ihre tiefe Verwurzelung. Die Wahl hat gezeigt: Das ist so nicht mehr gegeben.
Als Sie die Parteiführung kommissarisch übernahmen, sagten Sie, die SPD müsse darüber sprechen, worüber die Menschen am Abendbrottisch reden. Ist das Ihre Idee fürs neue Wurzelschlagen?
Es geht um Lebensnähe. Unsere vielen erfolgreichen Kommunalpolitiker und Landtagsabgeordneten haben große Erfahrung darin zu erspüren, was die Menschen beschäftigt. Das müssen wir wieder intensiver nutzen. Die zentrale Frage ist: Was macht das konkrete Leben einer Familie, einer Alleinerziehenden, eines Rentners in Zeiten großer Veränderungen und Umbrüche aus?
Eine traditionelle sozialdemokratische Überzeugung lautet: Gerechtigkeit schafft man durch Ordnung, Grenzen und Regeln. Gilt das auch für Migration?
Bei diesem Thema sollten uns zwei Aspekte stärker beschäftigen. Erstens: Wenn wir unsere offene Gesellschaft mit einer migrationsfreundlichen Haltung verbinden wollen – was wegen des Fachkräftemangels unumgänglich ist –, dann kommt es entscheidend auf Integration an. Es darf kein Laissez-faire geben. Wir brauchen eine Verständigung auf Regeln, die für uns alle gelten. Zweitens: Gibt es einen Punkt, an dem die eigenen Kapazitäten und Kräfte in unseren Kommunen erschöpft sind? Es ist legitim, auch darüber zu sprechen. Bund und Länder müssen dann stärker helfen.
Viele potentielle SPD-Anhänger enthalten sich bei Wahlen. Ihnen ist die Partei zu links, sie interessieren sich nicht für Gender- oder Verstaatlichungsdebatten, die etwa von den Jusos gerne geführt werden. Will die SPD überhaupt noch Volkspartei sein?
Das wahre Problem der SPD ist, dass ihre Kernwählerschaft durch den sozialen und wirtschaftlichen Wandel schon lange auseinanderdriftet, so wie generell unsere Gesellschaft in der Mitte auseinanderzureißen droht. Genau deshalb ist es aber die große Chance der SPD, an einem neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu arbeiten. Auch hier gilt: Es geht um lebenspraktische Fragen wie Wohnen, Respekt für Arbeit, Rente, Kitaplätze. Wir hier in Hamm sind dabei, eine der familienfreundlichsten Städte zu werden.
Die erste Vorlage, die ich nach meiner Wahl zum Oberbürgermeister 2020 unterzeichnet habe, war jene zur Halbierung der Kitabeiträge. Es ging auch um das Signal: Wir sehen die Familien mit ihrem Erziehungsauftrag, wie in Familien füreinander Verantwortung übernommen wird – die oft beschworene Keimzelle der Gesellschaft, des Zusammenhalts. Die SPD ist die Gerechtigkeitspartei. Das schließt aus, dass sie als Klientelpartei auftritt. Eine Volkspartei muss immer die ganze Gesellschaft im Blick haben. Es wäre ein Fehlschluss zu glauben, in der modernen, fragmentierten Gesellschaft müsste die SPD nur möglichst viele Minderheiten bedienen, um eine Mehrheit zu gewinnen.
Sie warnen Ihre Partei also davor, den Grünen nachzueifern?
Das Dümmste wäre, den Grünen in ihrer Klientelpolitik nachzueifern, bei der jede Minderheit einfach in ihrer kleinen Ecke bleibt. Der Zukunftsauftrag der Sozialdemokratie: das Fragmentierte zu einem vielfältigen, solidarischen und gerechten Miteinander bündeln.
Es waren nicht dezidiert linke Genossen, sondern es war der entlang konkreter Alltagsfragen agierende sogenannte Bürgermeisterflügel, der im Ruhrgebiet in den 1950er- und 1960er-Jahren den Grundstein für den späteren Aufstieg der SPD in NRW legte, erst danach wurde sie landesweit mehrheitsfähig. Könnte das wieder ein Erfolgsmodell für die SPD sein?
Wenn man wie ich eine Geschichte bei den nordrhein-westfälischen Jungsozialisten hat, kommt man nicht aus einem rechten Flügel. Trotzdem halte ich mich heute für einen pragmatischen Oberbürgermeister. Die Zukunft der NRW-SPD entscheidet sich nicht zwischen rechts und links. Die Landespartei ist nicht gebeutelt durch einen Richtungsstreit. Unser Problem ist: Das Ganze kommt wie eine lose verkoppelte Anarchie daher. Wir sind gut beraten, alle unsere Kraftzentren stärker für die Landespartei nutzbar zu machen – auch und gerade die kommunalen Kraftzentren.
Ohne eine starke NRW-SPD können Sozialdemokraten keine Bundestagswahl gewinnen. Kann sich Kanzler Olaf Scholz die Wiederwahl schon abschminken?
Ich bin überzeugt: Der Kanzler wird 2025 wiedergewählt. Olaf Scholz hat mit seiner Bundesregierung viel dazu beigetragen, dass der Primat der Politik wieder gilt. In den Zeiten der vielen Krisen hat die große Mehrheit ein neues Verständnis dafür entwickelt, dass es den starken Staat braucht. Das ist eine hervorragende Voraussetzung für sozialdemokratische Politik. Der starke Staat ist kein Selbstzweck. Es braucht ihn, damit Zukunftschancen nicht liegen bleiben und Menschen keine Zukunfts- und Abstiegsängste haben müssen.
Welche Rolle sehen Sie künftig für sich? Wollen Sie beim Parteitag im August für den Landesvorsitz kandidieren?
Ich will vor allem als Oberbürgermeister meiner wunderbaren Stadt Hamm arbeiten und bei der Kommunalwahl 2025 wieder antreten – mit vollem Herzen und vollem Einsatz.
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