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Es fehlt inzwischen an fast allem – seit acht Monaten leiden die Armenier in Bergkarabach unter einer Blockade Aserbaidschans. Nun reisen Armenier aus, andere setzen auf Widerstand um jeden Preis.
Ein Laib Brot pro Tag und Familie – in Bergkarabach wird das Mehl knapp. Immer öfter gehen die Menschen nach stundenlangem Anstehen vor den Bäckereien leer aus. Nun sah sich die Führung des von Armeniern bewohnten Gebietes auf dem Territorium Aserbaidschans auch zur Rationierung des Brotes gezwungen. Vor Wochen schon wurden Marken zur Verteilung vieler Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs ausgegeben.
Kontrolle über einzige Versorgungsroute
Seit dem 12. Dezember 2022 reduzierte die Regierung von Aserbaidschan schrittweise die Versorgung über die einzige Versorgungsroute zwischen Bergkarabach und Armenien, den Latschin-Korridor, zunächst mittels einer vorgeblichen Protestaktion von Öko-Aktivisten, seit Ende April mit einem Kontrollpunkt am Grenzübergang von Armenien nach Aserbaidschan. Die Regierung in Baku spricht vom Recht auf Kontrolle über das eigene Territorium und der Notwendigkeit, Waffentransporte in die Region zu unterbinden.
Allerdings hatte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew in einer von Russland vermittelten Vereinbarung mit Armenien vom 9. November 2020 den freien und sicheren Transport von Menschen und Gütern durch den Korridor garantiert. Russische Soldaten sollten demnach den fünf Kilometer breiten Landstreifen kontrollieren. Die Vereinbarung beendete einen 44 Tage währenden Krieg, bei dem Aserbaidschan Territorium zurückerobert hatte, das Armenien seit Beginn der 1990er-Jahre besetzt gehalten hatte.
Es fehlt an allem
Für die armenische Bevölkerung in Bergkarabach wurde das Leben seither immer prekärer. In den vergangenen Monaten ließ Aserbaidschan nur noch Fahrzeuge der russischen Truppen und des Internationalen Roten Kreuzes mit schwer kranken Patienten und lebenswichtigen Medikamenten passieren, und dies immer seltener.
Inzwischen bleibt den Bewohnern in Bergkarabach nur noch, was sie an Vorräten übrig haben, was sie unter Wucherpreisen den russischen Soldaten abkaufen können und was in ihren Gärten und auf ihren Feldern wächst. Dabei geraten Bauern in Reichweite aserbaidschanischer Streitkräfte immer wieder unter Beschuss, zudem fehlt es an Kraftstoffen für den Betrieb von Traktoren und Lastwagen zum Transport der Ernte.
Außerdem ist die Gas- und die Stromversorgung aus Armenien unterbrochen. Die Führung von Bergkarabach sah sich gezwungen, zur Stromerzeugung den Betrieb der Wasserkraftwerke zu forcieren, weshalb nun immer häufiger auch die Wasserversorgung ausfällt. Mittlerweile beklagen die Bewohner Mangelernährung und gesundheitliche Folgeprobleme wie Fehlgeburten.
Bürgermeisterin von Paris am Latschin-Korridor
Dabei stauen sich inzwischen seit Wochen Laster mit Hilfsgütern am Eingang des Latschin-Korridors. Nun kamen zehn Lkw aus Frankreich hinzu, begleitet von französischen Politikern, darunter die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo.
Angekommen am Eingang des Latschin-Korridors konstatierte Hidalgo, es gelange keine humanitäre Hilfe hindurch – eine gravierende Verletzung der Menschenrechte. „Eine humanitäre Krise ist im Gange, es herrscht Notstand.“
Womöglich bleibt es aber bei diesem Signal des guten Willens, das letztlich auch an die armenischstämmige Wählerschaft in Frankreich gerichtet ist. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Aserbaidschan sind seit Jahren angespannt. Alijew wirft Frankreich Parteinahme zugunsten der Armenier vor.
Sorge um die Zukunft
Allerdings trugen Gesten wie diese und die internationale Aufmerksamkeit dazu bei, dass Alijew seit Ende September 2022 von der militärischen Durchsetzung seiner Ziele abrückte. Zu dieser Zeit waren aserbaidschanische Streitkräfte in einem Großeinsatz nach Armenien vorgedrungen, etwa 300 Menschen wurden getötet. Die EU, die USA, Russland und andere Staaten warnten Alijew und drangen auf den Fortgang der von ihnen vermittelten Friedensverhandlungen.
Alijew, zwar auf internationale Investitionen angewiesen, setzt er aber nach wie vor auf die Umsetzung seiner Maximalforderungen. In Bergkarabach ist das die vollständige Assimilierung der Armenier in den aserbaidschanischen Staat. Entsprechend fürchten diese, schrittweise ihre Eigenständigkeit zu verlieren, wenn nicht ganz vertrieben zu werden. Entsprechend verstehen sie die Entsendung von Hilfsgütern aus Baku als Versuch, Abhängigkeiten zu schaffen.
Zudem lässt Aserbaidschan seit dem 20. August verstärkt Armenier in Begleitung der russischen Truppen aus Bergkarabach ausreisen – ohne eine Sicherheit auf Rückkehr. Die Zahl der Ausgereisten könnte inzwischen mehrere Hundert betragen.
Widerstand um jeden Preis?
Diese Politik hat das Potential, die Bevölkerung in Bergkarabach zu spalten und deren Führung noch stärker unter Druck zu setzen. Einige befürworten es, in Gespräche mit der Regierung in Baku zu treten, auch wenn international vermittelte Versuche zwischenzeitlich mehrfach gescheitert sind.
Andere tendieren zum Widerstand um jeden Preis, angespornt von radikal-nationalistischen Kräften in Armenien und der Diaspora. Noch verfügen die Selbstverteidigungskräfte über schätzungsweise 5.000 Kämpfer, Waffen und Munition. Die gesamte männliche Bevölkerung durchläuft im 18. Lebensjahr einen obligatorischen Militärdienst. Auch ist davon auszugehen, dass in den meisten Haushalten Waffen vorhanden sind.
Sollten die aserbaidschanischen Streitkräfte versuchen, Bergkarabach zu besetzen, droht ein Guerillakrieg, den auch die Regierung von Nikol Paschinjan in Jerewan nicht kontrollieren könnte.
Auf verlorenem Posten
Unter dem Protest der Opposition in Armenien und der Führung von Bergkarabach hatte Paschinjan im vergangenen Jahr erklärt, dass er in einem Friedensabkommen die Souveränität Aserbaidschans – inklusive Bergkarabach – anerkennen werde. Nur so könnte er durchsetzen, dass Aserbaidschan den Staat Armenien in seinen bestehenden Grenzen anerkennt, so die Begründung.
Allerdings fordert Paschinjan weiter Rechte und Sicherheiten für die Armenier in Bergkarabach. Für deren Durchsetzung wäre allerdings die Präsenz einer internationalen Organisation notwendig, sind nicht nur armenische Experten überzeugt.
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