Dem Senat ist bewusst, dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin und insbesondere für die Nebenklägerin des Ausgangsverfahrens schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist“, sagte die Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende des Zweiten Senats am Dienstag, als das Gericht sein Urteil zur Wiederaufnahme von Strafverfahren verkündete.
Doris König dürfte damit noch untertrieben haben. Bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr hatte sich Hans von Möhlmann, der Vater der im Jahre 1981 ermordeten Frederike von Möhlmann, für die Einführung der nun gekippten Wiederaufnahmeregelung eingesetzt, um den Verdächtigen von damals noch einmal vor Gericht bringen zu können.
Etwa 180.000 Menschen unterschrieben die Internetpetition, die der Vater gestartet hatte, damit der Gesetzgeber die strengen Voraussetzungen zur Wiederaufnahme von Strafverfahren erweitert. „Ich kann sagen, dass Zeit keinen Frieden im Herzen schafft“, ließ die Schwester der getöteten Schülerin in der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts im Mai 2023 mitteilen.
Doch aus Sicht des Senats konnte die umstrittene Vorschrift zur rückwirkenden Wiederaufnahme von Strafprozessen (Paragraf 362 Nr. 5 der Strafprozessordnung) aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel keinen Bestand haben. Der Versuch des Gesetzgebers, damit Gerechtigkeit im Einzelfall zu ermöglichen, scheiterte an der Vorgabe des Grundgesetzes, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft und auch nicht verfolgt werden darf. Außerdem rügten die Richter einen Verstoß gegen das grundgesetzliche Verbot, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen.
Neue Analysemethoden lieferten neue Hinweise
Der Verfassungsgesetzgeber habe entschieden, dass Rechtssicherheit aufgrund eines rechtskräftigen Urteils unbedingten Vorrang gegenüber Gerechtigkeitserwägungen haben solle, erläuterte Vizepräsidentin König in ihrer Einführung. Das grundrechtsgleiche Recht, vor abermaliger Verfolgung nach einem Freispruch geschützt zu sein, diene der Freiheit und Menschenwürde des Betroffenen. „Denn es verhindert, dass er zum bloßen Objekt der Ermittlung des wahren Sachverhalts gemacht wird und nach einem rechtskräftigen Freispruch ständig damit rechnen muss, erneut einem Strafverfahren mitsamt den damit verbundenen Belastungen unterzogen zu werden“, argumentierte die Vorsitzende des Zweiten Senats.
Soweit ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung anzuerkennen sei, sei dieser jedenfalls „nicht auf ein bestimmtes Ergebnis, etwa eine Verurteilung oder die Ermittlung der absoluten Wahrheit, gerichtet“. Die Strafverfolgungsorgane seien „nur zu einem effektiven Tätigwerden“ verpflichtet. „Deshalb kann das Vertrauen der Opfer oder ihrer Angehörigen in eine rechtsstaatliche, effektive Strafverfolgung durch solche Freisprüche grundsätzlich nicht erschüttert werden“, skizzierte König die Logik des Gerichts.
Selbst wenn es um schwerste Verbrechen gehe und aufgrund neuer kriminologischer Möglichkeiten Zweifel an der Berechtigung des Freispruchs zunähmen, führe dessen Fortbestand nicht zu einem „schlechterdings unerträglichen“ Ergebnis, wie der Gesetzgeber argumentiert habe. Vielmehr dürfe jeder von Verfassungs wegen darauf vertraue, dass er nach dem rechtskräftigen Abschluss eines regelgemäßen Strafverfahrens wegen derselben Tat nicht nochmals belangt werde, hob König hervor.
Der Fall, der den Anlass für die Entscheidung gab, liegt mehr als 40 Jahre zurück. Frederike von Möhlmann war in der Nähe von Celle als Anhalterin unterwegs nach Hause gewesen, als sie dann in einem Waldstück vergewaltigt und durch Messerstiche getötet wurde. Die Familie hatte gehofft, dem Mordverdächtigen möge aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit“ von 2021 abermals der Prozess gemacht werden.
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