WELT: Als Putin seinen Krieg gegen die Ukraine begann, sprach er selbst von einer kurzen „Spezialoperation“. Nun sind fast zwei Jahre vergangen, die Gegenoffensive der Ukraine war erfolglos. Was ist dies für ein Krieg, was wird geschehen?
Ivan Krastev: Putins „Spezialoperation“ endete im Herbst letzten Jahres. Er wollte die Kontrolle über Kiew und wurde besiegt. Der heutige Krieg ist ein anderer. Er wird auf dem Territorium der Ukraine geführt, doch Putin hat ihn zum Krieg gegen die Nato und den Westen erklärt. Er soll beweisen, dass eine prowestliche Ukraine nichts anderes sein kann als ein failed state, und die Nato niemals Russland weder isolieren noch besiegen kann. Dieser Krieg scheint in mehrfacher Hinsicht wie ein endloser Krieg. Das Paradoxe der derzeitigen Situation ist, dass die Mehrheit der Russen der festen Überzeugung ist, in einem Krieg gegen den Westen zu sein. Während die meisten Amerikaner und Europäer nicht glauben, in einem Krieg gegen Russland zu sein.
WELT: Was heißt das für die Ukraine, deren exzeptioneller Präsident immer noch an den Sieg zu glauben scheint?
Krastev: Selbst wenn es gelänge, alles besetzte Land zurückzuerobern – und danach sieht es nicht aus: Dies wäre nicht automatisch das Ende des Krieges. Putin hat keinerlei Gründe, die Kämpfe zu beenden, bevor er nicht weiß, wer der nächste Präsident der USA sein wird. Daher meine ich, dass alles getan werden muss, um zu beweisen, dass die Ukraine ein funktionierender Staat ist, selbst in einem lange dauernden Krieg. Dabei besteht natürlich das Risiko, dass die Ukraine vergessen oder verdrängt wird vom Westen, sich entvölkert und die Mehrheit der Flüchtlinge, die das Land verlassen haben, nicht mehr zurückkommen will. Das hieße, das Land verlöre die Fähigkeit, sich selbst wieder aufzubauen. „Langer Krieg“ bedeutet, dass man die bemerkenswerte Einigkeit der Ukrainer nicht für selbstverständlich nehmen sollte. Je länger der Krieg dauert, umso mehr werden die Spannungen zwischen denen an der Front und jenen, die sich freigekauft haben, wachsen. Also zwischen denen, die im Land geblieben sind und jenen in Europa, besonders den jungen Männern.
WELT: Was ist die innere Verbindung zwischen der Ukraine und Israel?
Krastev: Der Krieg im Nahen Osten bedeutet weniger amerikanische Waffen für die Ukraine und auch weniger globale Solidarität für sie. Russland kann seine internationale Position noch verstärken. Zudem erleben wir innerhalb Europas Frakturen. Während der Krieg Russlands gegen die Ukraine zumindest für den Moment Europa vereinte, droht Gaza die europäischen Gesellschaften zu spalten. Russland ist eine externe Bedrohung, während Gaza eine innere Gefahr bedeutet. Nur so ist Präsident Macrons Rede von der Gefahr eines Übergreifens des Konfliktes zu verstehen. Er meinte eben nicht den Libanon, sondern Paris. Der Erfolg der äußersten Rechten bei den niederländischen Wahlen kann auch als Ergebnis dieses Hamas-Effektes auf die europäische Politik gelesen werden.
WELT: Im Kalten Krieg prallten Demokratien auf kommunistische Systeme, eine recht übersichtliche Konstellation. Heute scheinen einige große Staaten des Globalen Südens neutral oder gar desinteressiert am Schicksal eines Landes wie der Ukraine – oder gar Israels. Wie erklären Sie sich das?
Krastev: Jose Saramago hat einmal geschrieben: „Chaos ist in erster Linie Ordnung, die darauf wartet, entziffert zu werden.“ Es war naiv zu glauben, dass die unverblümte Verletzung internationaler Rechtsnormen durch Russland Mächte wie Indien oder Brasilien zu einer Verteidigung der Nach-Kalte-Kriegs-Ordnung bringen könnte. Für diese mittleren Mächte ist doch die Krise internationaler Ordnung mehr Chance als Risiko! Sie sitzen doch nicht da und überlegen, ob sie der Welt der Demokratien oder jener der Autokratien angehören wollen. Nein, sie gehen verschiedene Wege, besonders um zu demonstrieren, dass ihre Zeit jetzt gekommen ist. Sie wollen einen Platz am großen Tisch. Und daher sind sie weniger über den Zustand der Welt besorgt, als dass sie ihren Platz in dieser Welt upgraden wollen.
WELT: Welch schöne neue Welt!
Krastev: Nun, wir leben in Zeiten, in denen Länder nach Allianzen, nicht Vorbildern suchen. Souveränität bedeutet für sie, Optionen zu haben: amerikanische Sicherheitsgarantien und gleichzeitig China als wichtigen Handelspartner. So sieht es aus.
WELT: Welche Rolle kommt in diesen unruhigen Zeiten Wahlen zu? Nicht nur in Ostdeutschland oder der EU, sondern auch in Amerika, Russland, Taiwan und der Ukraine wird 2014 gewählt. Was können Wahlgänge bewirken?
Krastev: 2024 wird ein langes Jahr. Es begann im Oktober 2023 mit den polnischen Wahlen und wird im Januar 2025 mit dem neuen amerikanischen Präsidenten enden. Fast vier Milliarden Menschen werden in diesen 16 Monaten wählen gehen. Und am Ende dieses langen 2024, geprägt durch Kriege und Wahlen, wird die Welt vielleicht neu aufgestellt sein. Aber nicht erlöst.
WELT: Was, wenn Donald Trump gewinnt?
Krastev: Sein Sieg bedeutet ein anderes Amerika und wiederum ein anderes Europa. Aber selbst wenn Biden siegen sollte, wird er nicht die Welt von gestern wiederherstellen können. Der Zug hat den Bahnhof verlassen und wir treten ein in eine riskante Zeit transformativer Veränderungen in ganz unterschiedlichen Ecken der Welt.
WELT: Warum ist die Jugend in der westlichen Welt so offen für radikale, totalitäre Gedanken? Bin Ladens Brief an Amerika wird ein Hit auf TikTok, Greta Thunberg verrutschen Maßstäbe – wie bei so vielen Studenten, die ins Antisemitische abdriften. Ist dies eine normale adoleszente Rebellion oder ändert sich etwas durch die Macht der sozialen Medien?
Krastev: Die jungen Leute sind wütend auf uns, ihre Eltern. Sie sind zudem eine kleine Kohorte und ihre favorisierten Parteien gewinnen selten die Wahlen, so bleibt ihnen nur das Netz oder die Straße als Orte, wo man sie überhaupt wahrnimmt. Sie fühlen sich groß und machtlos zugleich. Weil sie im reicheren Teil der Welt geboren wurden, sind sie meiner Meinung nach irrtümlich davon überzeugt, sie hätten kein Recht, jene zu kritisieren, die in Armut und Krieg geboren wurden und leben müssen. Aber zu glauben, diese Generation habe einen Hang zu totalitärem Denken, ist in meinen Augen Blödsinn. Empörung ist noch lange keine Politik und Waffenstillstand kein Synonym für Frieden. Im Prinzip ist nichts falsch daran, wenn sich junge Menschen über Israels militärische Aktionen nach dem 7. Oktober aufregen. Genauso wie über die Doppelmoral westlicher Regierungen. Aber nichts kann die Verbrechen und die „Lust an der Ermordung von Juden“ der Hamas rechtfertigen, dieses antisemitische Pogrom.
WELT: Die deutsche Identität war lange von Scham geprägt, weniger von Stolz. Nun redet die Politik von „Zeitenwende“. Kann Deutschland mit militärischer Aggression umgehen? Und ist es vorbereitet auf zukünftige Schocks?
Krastev: Ich glaube, die deutsche Identität ist von beidem geprägt: Scham und Stolz. Scham über die Taten der Nazis, aber Stolz nicht nur über den ökonomischen Erfolg der Nachkriegsjahre, sondern auch, das zu tun, was niemand sonst getan hat: sich mutig mit den eigenen Verbrechen zu konfrontieren. Ukraine und Gaza haben diese politische Identität erschüttert, sie fordern auch das ökonomische Modell heraus. Aber ist im Vergleich die Krise des französischen Republikanismus oder die in Amerika leichter zu bewältigen? Deutschland ist immer noch in einer besseren Position als viele andere Länder. Die Polen würden sagen: Deutschland ist noch lange nicht verendet.
WELT: Sie sprechen viel von Transformation. Haben Regierungen wie die derzeitige deutsche mit ihrer ambitionierten grünen Partei und deren Fokus auf Klimawandel eine Chance? Oder erleben wir nicht gerade eine Rückkehr zu konventioneller, konservativer Politik?
Krastev: Alle Regierungen, ob progressiv oder konservativ, werden in den nächsten Jahren experimentell agieren müssen. Europäische Politik, wie wir sie kennen, ist vorbei.
WELT: Was ist am Ende das wirklich Singuläre an der Demokratie im Kampf mit all den kruden Autokratien dieser Welt?
Krastev: Demokratien, das ist ihr größter Vorteil, sind zur Selbstkorrektur fähige Gesellschaften. Erst wenn wir diese Fähigkeit verlieren, wird es zur wirklichen Krise der Demokratie kommen.
WELT: Wie sieht es, was die Irrtums-Erkenntnis angeht, in der Frage der Migration aus?
Krastev: Migration und Klimawandel sind die zukunftsentscheidenden Krisen. Die Klima-Linke und die antimigrantische Rechte sind wie zwei Extinction-Rebellion-Bewegungen, beide befürchten den jeweiligen Untergang, weil sie denken, wenn etwas heute nicht getan würde, es morgen zu spät wäre. Nur wenn es gelingt, beiden Wählerängsten ernsthaft zu begegnen, kann die europäische Politik eine neue Balance finden.
WELT: Warum ist der Islam als Religion so stark und wie können säkulare, demokratische Gesellschaften mit muslimischen Minderheiten in Zukunft umgehen?
Krastev: Wenn ich die Antwort wüsste!
Zur Person: Ivan Krastev (58) ist ein bulgarischer Politologe. Er wurde bekannt durch sein Buch „Das Licht, das erlosch“, in dem er die Entfremdung des Ostens nach der 1989-Euphorie beschrieb. Er ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen.
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