Russlands Krieg in der Ukraine: Blaue Säcke voller westlicher Chips

Andryj Kulschitzkyj neigt nicht zu Sentimentalitäten. Vielleicht liegt das an seinem militärischen Hintergrund. Womöglich aber schwirren ihm einfach zu viele Fakten durch den Kopf. „Das hier war mal eine S-300-Rakete, und dort liegt eine Ch-55. Sie wurde bei Kiew mit einem Stinger-Manpad abgeschossen – und zack, war sie weg! Und das hier war ein Ch-101-Marschflugkörper, der hat in einem Dorf zwischen Schytomyr und Odessa einen 80 Jahre alten Mann und seine Frau getötet und das komplette Gebäude zerstört.“ Kulschitzkyj lässt seinen Zuhörern keine Pause. In einem fort zählt er Waffentypen und Einschlagsorte auf. Dabei deutet er auf einen Haufen Raketentrümmer, der unter einer Plexiglasüberdachung im Freien liegt. Immer wieder klopft er mit seinen Fingern auf die Stahlgehäuse der Raketenteile. An einigen sind kleine Schilder mit Typenbezeichnungen und Erläuterungen angebracht – fast wie im Museum.

Kulschitzkyj aber führt nicht durch eine Ausstellung, sondern über den Hinterhof des „Kiewer wissenschaftlichen Forschungsinstituts für forensische Expertise des Justizministeriums der Ukra­ine“. All die Raketen und Drohnen, die hier in Teilen vor ihm liegen, sind in den vergangenen zwei Jahren auf die Ukraine niedergegangen. Kulschitzkyjs Team aus acht forensischen Fachleuten untersucht nun die Überreste der russischen Waffen. Sie arbeiten in kleinen Baucontainern auf dem Hinterhof des Instituts. Die Untersuchungsergebnisse ermöglichen Strafverfahren und den gerichtsfesten Nachweis von Beschädigungen. Die Forensiker nehmen die Überreste der Waffen bis auf das kleinste Detail auseinander, klassifizieren und untersuchen jeden Chip.

Kaum möglich, Schritt zu halten

An neuen Untersuchungsgegenständen mangelt es nicht. Täglich erhält das Institut Pakete, die aus dem ganzen Land nach Kiew geliefert werden. Unter dem Plexiglasdach im Hof stapeln sich Hunderte blaue Müllsäcke mit Raketen- und Drohnenteilen, die noch auf eine Untersuchung warten. Selbst hinter den Baucontainern an einem Zaun sind weitere Säcke gestapelt. An den Säcken kleben kleine Klarsichthüllen mit Dokumenten, auf denen der Einschlagsort und weitere Details vermerkt sind.

Forensisch untersucht: Teile einer russischen „Orlan-“Drohne im Februar in Kiew

Forensisch untersucht: Teile einer russischen „Orlan-“Drohne im Februar in Kiew : Bild: Oleksandr Magula

Kulschitzkyj erzählt, seine Abteilung habe noch mehr als 4000 ausstehende forensische Analysen. Jeder gebe sich große Mühe, es sei aber unmöglich, Schritt zu halten. Mitunter werde etwas vorgezogen, auf Anweisung des Geheimdienstes etwa. Bemerkenswert sei, dass die russischen Raketen, die im Januar in Kiew einschlugen, erst im vierten Quartal 2023 gebaut wurden. Das spreche für einen sehr kurzen Weg von der Fabrik bis zum Einsatz – unter Umgehung von Umwegen und Lagerhäusern. Gegen dieses Tempo kommt man hier kaum an.

Die unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Drohnen können die Fachleute hier genau nachvollziehen. Mit zeitlicher Verzögerung landet schließlich das meiste Kriegsgerät irgendwann auf einem der Tische in den Baucontainern des Instituts. Kulschitzkyj erklärt die Evolution der ursprünglich iranischen Shahed-Drohnen: Im Jahr 2022 seien die ersten Drohnen mit der russischen Bezeichnung Geran-2 und dem Buchstaben M in ukrainischen Städten explodiert. „Dabei handelt es sich um rein iranische Modelle, wir sehen einen iranischen Motor, einen iranischen Rumpf und einen iranischen Sprengkörper“.

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