İlkay Gündoğan im Interview: „Da den Kopf zu verlieren, kann tödlich sein“

Was sehen Sie bei diesem Turnier, wenn Sie in die Augen Ihrer Mitspieler schauen?

Freude und große Motivation. Und sehr viel Zusammenhalt. Zusammenhalt auf dem Platz, aber auch neben dem Platz.

Sie sagten im November, dass Sie Ihren Mitspielern während eines Spiels ins Gesicht schauen. Weil Sie sehen wollen, wer selbstbewusst ist, wer den Ball wirklich will.

Ja. Und das merkt man jetzt in der Art und Weise, wie wir spielen. Dass es immer flüssiger wird, dass es immer mehr untereinander klickt. Je öfter man in der Konstellation zusammenspielt, desto komfortabler fühlt man sich auch auf dem Platz, weil man irgendwann gefühlt blind irgendwohin spielen kann und weiß: Okay, da steht ein Kollege, und er weiß etwas damit anzufangen. Das kann eine große Qualität von uns bei dieser EM werden.

Im November sah das noch ganz anders aus. Was ist seitdem passiert?

Das hat natürlich auch mit Ergebnissen zu tun, den Siegen im März gegen zwei richtig starke Gegner, und auch der Start ins Turnier hat geholfen, besser hätte es wirklich nicht laufen können. Aber ich persönlich spüre auch sehr viel Vertrauen vom Trainer, vom Trainerteam. Sie geben gewisse Freiheiten, und jeder zieht voll mit.

Selbst die Spieler, die so ein bisschen hintendran sind, freuen sich genauso sehr für die Jungs auf dem Platz, wie wenn sie selbst dort stehen würden. Es ist toll, Teil dieser Gruppe zu sein, dafür spielen wir Fußball, für solche gemeinsamen Momente. Und am Ende kann es den Unterschied ausmachen. Ich habe momentan das Gefühl, dass es mit so einer besonderen Atmosphäre sehr weit gehen kann.

Klingt, als wäre es ein spürbarer Unterschied zu früheren Turnieren.

Definitiv. Wenn wir das zusammenbringen mit schwierigeren Momenten, wie wir sie jetzt im Schweiz-Spiel erlebt haben, und daraus das Bestmögliche rausholen, dann ist das schon eine Kombination, die für viele andere gefährlich sein kann.

In Ihrer Hälfte des Turnierbaums stehen neben Dänemark, dem Gegner im Achtelfinale an diesem Samstag (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Fußball-EM, im ZDF und bei Magenta TV), auch Spanien, Portugal und Frankreich. Welchen Weg muss die Mannschaft gehen, um im Turnier noch zu wachsen: Das, was sie bis jetzt gespielt hat, verfeinern, oder mehr an der Variabilität arbeiten, noch andere Möglichkeiten an sich entdecken?

Zuerst mal müssen wir jetzt mit der Situation umgehen, dass jede 90 Minuten die letzten sein können. Das ist schon sehr viel Druck, da wird das Mentale eine große Rolle spielen. Wenn man sich Real Madrid anschaut, die erfolgreichste Klubmannschaft des letzten Jahrzehnts und auch noch länger: Wie die nie in Panik geraten sind und immer die Ruhe bewahrt haben – das ist bemerkenswert. Man muss auch erkennen: Wann ist das Momentum auf meiner Seite und wann muss ich den Gegner dann auch wirklich bestrafen. Sonst wirst ganz schnell du selbst bestraft.

Das musste selbst Manchester City lernen…

Ich habe in meinem Leben viele K.o.-Spiele gehabt, in denen wir haushoher Favorit waren und dann rausgeflogen sind. Weil wir Fehler gemacht haben.

Wie wirken Sie als Kapitän darauf ein, dass das nicht passiert?

Ich will für ein Bewusstsein sorgen, dass es Phasen gibt, in denen wir so ein bisschen hinterherlaufen. Das wird einem von außen schnell negativ ausgelegt, aber das ist völlig normal. Wir sind schon eine Ballbesitzmannschaft. Aber wir müssen auch aushalten, dass ein Gegner mal den Ball für eine Minute, für 15, 20 Pässe hat, ohne dass wir nervös werden.

Manchmal verlieren wir diese Geduld, erkennen dann nicht den richtigen Pressing-Moment, kommen zu spät und laufen noch mehr hinterher, fast ein bisschen panisch. Ruhe bewahren und das zu akzeptieren, ist schon ein Schritt, den man auch mental machen muss. Bei Manchester City war das ein Prozess über ein, zwei Jahre.

Mit Toni Kroos haben Sie dafür ja den Richtigen dazubekommen.

Ja! Wenn das einer verkörpert, dann Toni. Auf unsere Erfahrung wird es ankommen in diesen Fifty-fifty-Spielen. Da entscheiden so oft Nuancen, da den Kopf zu verlieren, kann tödlich sein. Das ist manchmal entscheidender als das, was fußballerisch auf dem Platz passiert.

Sie haben nach dem Ungarn-Spiel gesagt, Sie und Toni Kroos brauchen sich nur eine Millisekunde anzuschauen, um zu wissen, was passieren muss.

Ja, weil er ein ähnlicher Spielertyp ist. Deshalb weiß ich oft, was er denkt und was er vorhat. Wo stehen die Gegenspieler, wo positioniert sich Toni, wo entsteht Raum? Das kennt man dann schon. Je besser du die Eigenschaften eines Mitspielers kennst, desto einfacher ist es, auch mal zu fantasieren, was er im Kopf als nächsten Schritt machen kann, welche zwei Optionen er optimalerweise erwägen würde. Bei einem Spieler von Tonis Qualität weiß ich: eine wird auf jeden Fall eintreten, und ich versuche die eine abzudecken, die andere müssen halt meine Mitspieler abdecken.

„Toni hat die Qualitäten, sich auch mal aus der Deckung zu lösen“, sagt Gündoğan über Kroos.
„Toni hat die Qualitäten, sich auch mal aus der Deckung zu lösen“, sagt Gündoğan über Kroos.picture alliance/dpa

Aber Sie reden wirklich nicht viel miteinander, oder?

Sagen wir mal so: Wir sind im Erkennen von Spielsituationen inzwischen so erfahren, dass wir nicht die ganze Zeit miteinander reden müssen.

Wenn man sich die Achse des deutschen Teams anschaut: Mit Antonio Rüdiger, Toni Kroos und Ihnen sind das drei eher ruhige Spieler. Ist das nicht ungewöhnlich?

Ich habe nicht das Gefühl, dass wir im Team jemanden brauchen, der die ganze Zeit rumschreit. Man muss die Persönlichkeiten von jedem Einzelnen kennen und damit umgehen können. Am Ende muss es authentisch sein.

Gündoğan mit Ehefrau Sara Arfaoui
Gündoğan mit Ehefrau Sara Arfaouidpa
Verändert sich Ihre Rolle, wenn Toni Kroos verstärkt in Manndeckung genommen wird wie gegen die Schweiz?

Erstmal ist es die gleiche Rolle, weil sich bei meiner Position ja nichts verändert. Ich will dann trotzdem den Raum zwischen den Spielern im gegnerischen Mittelfeld besetzen und versuchen, dort Räume zu schaffen. Für mich selbst, für Mitspieler. Ansonsten müssen alle ein bisschen mehr Verantwortung übernehmen.

Toni hat die Qualitäten, sich auch mal aus der Deckung zu lösen, und wenn es nur für eine Sekunde ist oder zwei, kann er schon damit was anfangen. Aber es geht natürlich nicht über 90 Minuten. Da sind dann wir anderen gefragt, auf den Sechser-Positionen, die Verteidiger im Spielaufbau, und natürlich auch ich. Das mache ich dann gerne, so wie in den letzten zehn Minuten gegen die Schweiz, als ich eine Position nach hinten gerückt bin.

Im deutschen Spiel sehen wir Sie als den Risikomanager. Können Sie mit dem Begriff etwas anfangen?

Ich glaube, dass nicht nur ich, sondern wir alle immer das Risiko abwägen müssen. Das Wichtigste ist: den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, um ins Risiko zu gehen. Als Flügelspieler sollte man keine Flanke schlagen, wenn im Strafraum nur ein Stürmer, aber fünf Abwehrspieler stehen. Das sind kleine Dinge, die man innerhalb kürzester Zeit abwägen muss. Und diese kleinen Dinge machen den Unterschied.

Ich muss aber nicht nur das Risiko abwägen, sondern auch darauf vorbereitet sein, was passiert, wenn es schiefgeht, wenn wir den Ball mal verlieren. Wir müssen dann eine gute Abstimmung haben und gemeinsam auf Balleroberung umschalten. Sonst werden wir ausgekontert, wie das in der ersten Halbzeit gegen Ungarn ein-, zweimal passiert ist. Da mussten wir dann 50, 60 Meter zurücksprinten. Das kostet Energie. Und diese Energie zu sparen – auch das ist Risikomanagement.

Was wir mit Risikomanager auch meinen: Gehen Sie weniger ins Risiko, damit Jamal Musiala und Florian Wirtz mehr ins Risiko gehen können?

Ich muss selbst schon auch ins Risiko gehen. Aber, wenn ich merke, dass wir drei, vier Mal nacheinander versucht haben, einen Risikopass zu spielen, und das nicht gutgegangen ist, versuche ich schon derjenige zu sein, der die Balance wahrt.

Müssen Sie Musiala und Wirtz ein bisschen länger anschauen, um zu wissen, was sie vorhaben?

Ja, vielleicht ein bisschen länger. Das sind andere Spielertypen: Künstler, Zauberer. Sie machen Dinge, die unerwartet sind – nicht nur für den Gegner, sondern manchmal auch für die eigene Mannschaft. Sie haben diese Fähigkeit, dass sie mit ihren Entscheidungen in Sekundenschnelle den Unterschied machen. Das haben sie in diesem Turnier auch schon gezeigt und Tore geschossen. Gerade Jamal hat das nochmal zu seinem Spiel hinzugefügt.

Sie nannten ihn Ihren „Ziehsohn“.

Ja. Wir verstehen uns gut, sehr gut sogar. Wir verbringen viel Zeit zusammen, lachen miteinander. Ich bin sehr eng mit Leroy (Sané, Anm. d. Red.), und Jamal ist, weil sie beide in München spielen, auch sehr eng mit Leroy. Deswegen ging das schnell mit uns. Für mich ist es umso schöner, dass wir auf dem Platz sehr nah beieinander sind, dass wir miteinander kombinieren und spielen können. Er ist ein toller Fußballer, der Beste, den wir haben. Und vielleicht auch der Wichtigste.

Empfinden Sie es als besonderes Glück nach der Vorgeschichte mit der Nationalmannschaft, nach den vielen Enttäuschungen, nun dieses Turnier spielen zu können: in Deutschland, in dieser Form?

Das war das Ziel. Und gerade ist es eine große Freude. Jetzt geht das Turnier richtig los. Wir wollen weiter erfolgreich sein. Weil wir die Menschen glücklich machen wollen. Aber auch weil wir unserem Standard gerecht werden wollen. Und weil ich meinem Standard gerecht werden will.

Es heißt, die Deutschen verstehen endlich, wie İlkay Gündoğan Fußball spielt. Bedeutet Ihnen das etwas?

Klar ist das schön. Ich meine, dass die, die mich im Verein begleitet haben, das schon wussten. Ich bin jetzt nicht alleine verantwortlich für den Erfolg der Nationalmannschaft. Und ich war auch nicht alleine verantwortlich für den Misserfolg. Ich war aber ein wesentlicher Teil der Mannschaft. Nur bin ich kein Messi, der eine gesamte Mannschaft alleine tragen kann. So einen haben wir nicht. Es funktioniert deswegen nur über das Kollektiv. Und das Kollektiv ist gerade so gut wie lange nicht mehr.

Haben Sie die Hoffnung, dass Deutschland in Ihnen, mit Ihrer Rolle und Ihrer Biographie, gerade noch etwas anderes erkennt: etwas das helfen könnte, in der Gesellschaft etwas zusammenzuhalten?

Darüber mache ich mir, da bin ich ehrlich, momentan nicht so viele Gedanken. Wir sind hier, um sportlich erfolgreich zu sein. Aber wenn wir weiter so spielen, glaube ich schon, dass das einen Effekt auf das Land, auf die Menschen im Land, auf das Miteinander haben wird. Da muss ich, auch wenn das lange her ist, immer noch an die Gefühle nach der WM 2006 denken. Menschen zu verbinden – diese Qualität hatte der Fußball immer.

Die großartige Stimmung bei der EM ist das eine, auf der anderen Seite gibt es einen Alltag und darin Dinge, die einem ein ungutes Gefühl machen. Ihnen auch?

Welche Dinge meinen Sie?

Rechtsruck, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit.

Wenn es etwas wäre, was vorher nicht dagewesen wäre, dann ja. Aber in der Welt, die ich kenne, gab es das in gewissen Phasen immer – mal stärker, mal schwächer. Und ich gehe davon aus, dass es das leider immer geben wird. Dementsprechend ist es nicht so leicht, dagegen anzukämpfen. Und auch gerade nicht unsere Aufgabe.

Wir sollten zuerst an das Sportliche denken, nicht andersherum. Das hat uns in der Vergangenheit nicht geholfen. Wenn es sportlich gut läuft, können wir überlegen, wie wir das einsetzen können für alles andere. Bis dahin können mit unserem Fußball die Menschen vielleicht etwas glücklicher machen. Und hoffen, dass das Auswirkungen auf das Zusammenleben hat.

Welches Gesicht sehen Sie, wenn Sie im Sommer 2024 auf Deutschland schauen?

Eines seiner besten seit langem. Ich bekomme das, was auf den Straßen passiert, nur durch Social Media mit, durch Fotos und Videos. Am Tag nach dem Schottland-Spiel haben mich aber meine Kumpels angeschrieben und angerufen. Sie haben gesagt: Ey, wir haben das Spiel auf den Straßen geschaut mit großen Bildschirmen, die Atmosphäre war Wahnsinn, macht so weiter! Das ist das, was wir wollten und wollen. Am liebsten bis zum 14. Juli. Dafür werden wir unser Bestes geben.

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