Neuwahlen in Frankreich: „Wir sind besorgt über die Zukunft Frankreichs“

In einer letzten verzweifelten Geste nach der krachenden Wahlniederlage hat der französische Premierminister Gabriel Attal die verschärften Regeln für das Arbeitslosengeld ausgesetzt. Die Reform der Arbeitslosenversicherung mit Kürzungen bei Höhe und Bezugsdauer sollte eigentlich an diesem Montag in Kraft treten. Marine Le Pen hatte sie heftig bekämpft, wie alle Versuche Präsident Macrons, das Dickicht des wuchernden französischen Sozialstaates zu lichten. „Erster Sieg der RN-Wähler“, kommentierte sie die Entscheidung des scheidenden Premierministers.

Am Sonntagabend konnte die 55-jährige Fraktionsvorsitzende in ihrem Wahlkreis in Hénin-Beaumont in den Jubel ihrer Anhänger einstimmen. Sie sicherte sich mit einem Ergebnis von 58 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang ihren neuerlichen Einzug in die Nationalversammlung. Auch landesweit verbesserte sich das Ergebnis ihre Partei erheblich: Von 7,7 Millionen Stimmen bei der Europawahl kam sie auf 11,5 Millionen Stimmen im ersten Wahlgang der Parlamentswahl. Noch spektakulärer fallen die Stimmenzuwächse im Vergleich zum ersten Wahlgang der Parlamentswahl im Juni 2022 aus: von 3,5 auf 11,5 Millionen. Nun strebt Le Pen eine absolute Mehrheit an, das heißt mindestens 289 Sitze in der Nationalversammlung am nächsten Sonntag. Ihr politischer Ziehsohn, der 28 Jahre alte Jordan Bardella, soll dann Premierminister einer Regierung der „nationalen Union“ werden. „Nichts kann ein Volk aufhalten, das wieder Hoffnung schöpft“, sagte Bardella in seiner Ansprache am Wahlabend. Der RN-Chef hat am Wahlabend Le Pen die Regie überlassen und damit die Aufgabenteilung angedeutet, die im Falle eines Machtwechsels geplant ist. Le Pen will bis zur Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2027 die politischen Zügel führen.

Republikaner lehnen Brandmauer gegenüber RN ab

Als Königsmacher könnte sich ausgerechnet die Schwesterpartei von CDU/CSU, die von Nicolas Sarkozy begründeten Republikaner (LR) erweisen. Nachdem sie zunächst empört das Ansinnen von Noch-Parteichef Eric Ciotti zurückgewiesen hatten, einen Wahlpakt mit Le Pen zu schließen, klang der Parteivorstand am Sonntagabend ganz anders. So lehnten es die Republikaner in einem Kommuniqué ab, eine Wahlempfehlung auszusprechen und eine Brandmauer gegenüber den RN-Kandidaten zu errichten. Unterzeichnet wurde die Erklärung von Senatspräsident Gérald Larcher, den ehemaligen Parteichefs Laurent Wauquiez und Jean-Francois Copé sowie vom EU-Spitzenkandidaten Francois-Xavier Bellamy, der als Nachfolger an der Parteispitze gehandelt wird. Bellamy wurde im Fernsehsender TF1 noch deutlicher: „Die Gefahr für die Republik droht von der extremen Linken“. Nach der Auflösung des Parlaments hatte Bellamy bereits angekündigt, er werde im zweiten Wahlgang auf jeden Fall lieber für den RN als für das Linksbündnis neue Volksfront stimmen. Er hatte sich dann aber halbherzig korrigiert, nachdem die EVP ihren Unmut über diese Haltung zum Ausdruck gebracht hatte.

Mit einem Ergebnis von etwa 10 Prozent der Stimmen und voraussichtlich um die 40 Sitze könnten die Republikaner zum Mehrheitsbeschaffer für den RN werden, sollte diese die absolute Mehrheit knapp verfehlen. In Paris gab es bereits Spekulationen, Bellamy könnte als Bildungsminister in einer RN-Republikaner-Regierung eintreten. Der LR-Vorsitzende Ciotti wird als künftiger Innenminister gehandelt. Mehrere Versuche, Ciotti zu entmachten, sind bislang vor Gericht gescheitert.

Premierminister Attal ließ sich bei der Wahlparty erst gar nicht blicken

Den Untergang seiner politischen Bewegung beging Emmanuel Macron in typischer Bildersprache. Er ließ sich in Le Touquet in Nordfrankreich mit dunklem Baseballcap und Sonnenbrille zu Jeans und schwarzer Lederjacke filmen, als habe er das Präsidentendasein im Anzug satt. „Ich werde alles tun, damit es keinen einzigen Grund mehr geben wird, für die Extremen zu stimmen“, hatte er 2017 am Wahlabend am Louvre versprochen. Sieben Jahre später rief er per schriftlicher Erklärung dazu auf, „angesichts des RN eine Sammlungsbewegung der demokratischen und republikanischen Kräfte“ zu begründen. Er überließ es seinem scheidenden Premierminister zu erklären, dass sich die Kandidaten der Präsidentenpartei im zweiten Wahlgang zurückziehen sollen, wenn sie in dritter Position sind. Ob die Kandidaten der Präsidentenorder folgen, ist dabei ungewiss. Der 35 Jahre alte Attal ließ sich bei der Wahlparty seiner Partei erst gar nicht blicken und hielt seine Ansprache in seinem Amtssitz. Die Stimmung war nach der Niederlage denkbar schlecht.

Den in der „Neuen Volksfront“ vereinten Linksparteien war am Sonntagabend ebenfalls nicht nach Jubeln zumute. In der Eventlocation in der multikulturell geprägten Pariser rue de Paradis, wohin sie Anhänger und Presse eingeladen hatten, herrschte bei Bekanntwerden der ersten Hochrechnungen betretenes Schweigen vor.

Schon die Wahlumfragen der vergangenen Tage hatten die leise Hoffnung der Linken auf eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung als sehr gering eingestuft. Mit den Ergebnissen aus dem ersten Wahlgang ist dieses Szenario nun völlig unwahrscheinlich geworden.

Linken-Chef Mélenchon gibt sich staatsmännisch

Als Verlierer wollen sich die Linken aber nicht sehen. Das machte ihr populistischer Wortführer Jean-Luc Mélenchon sogleich klar, als er um Viertel nach acht am Sonntagabend in der rue de Paradis die Bühne betrat und der Öffentlichkeit ausführlich seine Sicht auf die Wahlergebnisse darlegte.

„Diese Abstimmung hat dem Präsidenten, seinen Kandidaten und der sogenannten Präsidentenmehrheit eine schwere und unbestreitbare Niederlage zugefügt“, erklärte Mélenchon. Eines war ihm dabei besonders wichtig zu betonen: dass Gabriel Attal nach dieser Wahlklatsche für das Präsidentenlager nicht mehr Premierminister sein werde. Bemerkenswerterweise stand Mélenchon dabei nicht nur der neue sozialistische Hoffnungsträger Raphael Glucksmann zur Seite, sondern auch seine französisch-palästinensische Parteifreundin Rima Hassan, die seit Monaten mit antisemitischen Ausfällen für Schlagzeilen sorgt.

Das Mikrofon auf der Bühne gehörte Mélenchon allein, obwohl er gerade aufseiten der gemäßigten Vertreter der Volksfront alles andere als der unumstrittene primus inter pares ist. Dabei sprach er mit knapp zehn Minuten nicht nur länger als die Spitzen der anderen Parteien an diesem Abend, sondern gab sich mit Blick auf den erstarkten RN auch staatsmännisch. Er mahnte, dass es um die Zukunft der Republik gehe und rief zum entschiedenen Kampf gegen die Rechtspopulisten. „Nirgendwo“ werde man zulassen, dass diese gewinnen, sagte Mélenchon.

Deshalb würden sich die Kandidaten der Volksfront für die zweite Runde überall dort zurückziehen, wo man in der ersten Runde auf Platz drei und der RN auf Platz eins gelandet ist, kündigte er unter starkem Beifall seiner Anhänger an; Rückzieher und Allianzen mit den Macronisten in jenen Wahlkreisen, in denen die Kandidaten der Volksfront zweiter hinter dem RN geworden sind, sind indes nicht geplant.

Bardella gilt als Feindbild der linken französischen Jugend

Auf der Pariser Place de la République fand der Aufruf zum Kampf gegen die Rechtspopulisten Gehör. Schon lange vor einer organisierten Protestkundgebung der Linksparteien am Sonntagabend um 23 Uhr kamen hier Hunderte überwiegend junge Menschen zusammen, um ihrem Unmut über den erwarteten Wahlsieg des RN wie geplant Ausdruck zu verleihen.

Während von einer Bühne lauter Bass ertönte und unter roten Zeltplanen Bratwurst auf dem Grill brutzelte, wurden in der dichten Menschenmenge neben Partei- und Frankreichflaggen auch Palästina- und Antifa-Flaggen geschwenkt. Schmährufe galten auf der Place de la République an diesem Abend allen voran dem RN-Parteichef Bardella, der in der linken französischen Jugend zum Feindbild geworden ist. Von der Bühne der Volksfront ertönten kämpferische Ansagen.

„Wir sind besorgt über die Zukunft des Landes, über unsere Freiheiten, über den Rassismus, den Faschismus, der an unsere Türen klopft“, erklärt Thibaud Primault, der zum Studium aus seiner nordfranzösischen Heimat nach Paris gezogen ist, hier für monatlich 600 Euro in einer, wie er selbst sagt, „Bruchbude“ haust und politisch für die Volksfront streitet. Den starken Zuspruch für den RN erklärt er sich auch mit den außerhalb der Metropole stark gestiegenen Lebenshaltungskosten.

„Als ich zehn Jahre alt war, ging meine Mutter mit einem vollen Einkaufswagen in den Supermarkt und haben wir für 100 Euro für zwei Wochen lang eingekauft“, sagt Primault. Heute bekomme man für das gleiche Geld neben Hacksteak, Wasser und Toilettenpapier nicht viel mehr. Man könne sich nicht mehr ernähren und die Leute fühlten sich von der Politik vernachlässigt. Doch die Antwort seien nicht die Rezepte des RN. „Wir müssen verstehen, dass der Faschismus keine Lösungen bietet“, meint der junge Student.

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