Der lukrative Kampf um Chinas Pfunde

Der Patient in der Klinik redet nicht um den heißen Brei herum. Warum er hier sei? „Um eine schöne Frau zu finden“, sagt er und lacht. Er ist verschwitzt vom Muskeltraining, das er für das Gespräch kurz unterbricht. In zwei Wochen habe er schon zehn Kilogramm verloren, dreißig weitere sollen noch weg. Dafür hat er ein halbes Jahr Zeit, so lang lebt er in dem Ableger der chinesischen Abnehmkette „The Biggest Loser“ am Stadtrand von Schanghai.

Vor sechs Jahrzehnten starben noch viele Millionen Chinesen in der Hungersnot, die der „Große Sprung nach vorn“ auslöste. Bis heute ist Ernährungssicherheit ein wichtiges Motiv in der Politik. Mit dem chinesischen Wirtschaftswunder sind aber längst Übergewicht und Wohlstandskrankheiten zum größeren Pro­blem geworden. Mehr als die Hälfte der Erwachsenen ist zu dick, berichteten selbst Staatsmedien. Andere Erhebungen kommen auf niedrigere Werte, auch weil es in China niedrige Schwellenwerte für die Definition von Übergewicht gibt.

Klar ist aber, dass die Tendenz stark nach oben geht und dass es in keinem Land mehr übergewichtige Menschen gibt als in China. Noch sind die Chinesen insgesamt zwar dünner als die Menschen im Westen. Aber der Anteil der Kinder, die übergewichtig sind, steigt rasant. Zur Jahrtausendwende war nicht einmal jedes zehnte Kind in China zu dick, zwanzig Jahre später dagegen fast vier von zehn, hieß es vor einem halben Jahr in einer Untersuchung. Bis zum Ende des Jahrzehnts könnten es sechs von zehn sein, warnten die Autoren.

Die Verwestlichung der Ernährung

Gründe dafür gibt es viele. „Der Hauptfaktor ist die Ernährung“, sagt Xu Jia der F.A.Z. Xu hat an der Johns-Hopkins-Universität in Physiologie promoviert, arbeitet für einen amerikanischen Ernährungsverband und ist einer der prominentesten Ernährungsinfluencer Chinas. Der Fleischkonsum auf dem Land hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten verdreifacht, in der Stadt beträgt das Plus zwei Drittel. Xu spricht von einer „Verwestlichung der Ernährung“, aber auch vom Lebensstil und Stress der Menschen, der zu Übergewicht und Adipositas führe.

Adipositas sei vor allem unter alten Frauen ein größeres Problem, sagt Xu. Sobald sie in Rente gingen, fehle die Bewegung. „Unter Männern ist die Spitze zwischen 35 und 45 Jahren“, sagt er. „Das liegt an exzessiver Unterhaltung am Arbeitsplatz.“ Eine freundliche Umschreibung für regelmäßige Alkoholgelage mit Kollegen und Geschäftspartnern, die in Politik und Wirtschaft üblich sind.

„Mitternachtssnacks, Videospiele, Bubble Tea“, beschreibt der Patient, der Mitte zwanzig ist und dessen Name nicht genannt werden soll, die Ursachen für sein Übergewicht. Er kommt aus einer reichen Familie. Seinem Vater, der die Gebühr für das Zentrum zahlt, gehört eine Kette von Kliniken für plastische Chirurgie, sagt er. Er selbst arbeite in Schanghai für eine der großen globalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, werde demnächst aber wohl in die Firma seines Vaters wechseln. Wir treffen ihn im Frühjahr in der Einrichtung, bis September will er bleiben. 51.000 chinesische Yuan, rund 6500 Euro, koste ihn das halbe Jahr, sagt er. Vor allem aber muss er sich freinehmen. Das geht noch viel mehr ins Geld.

„In unsere Einrichtung kommen vor allem Menschen aus wohlhabenden Familien“, sagt Zhang Jian, der die Filiale leitet. Luxuriös geht es in der Einrichtung zwar nicht zu. Der Teppichboden in der Sporthalle hat Flecken, über einen Hintereingang in dem wenig repräsentativen Gewerbegebiet gelangen die Patienten in ihre Zimmer, die bei einem Hotel angemietet wurden. Doch für chinesische Verhältnisse bietet die Einrichtung viel Platz, die Menschen sind in Einzel- oder Doppelzimmern. Im Vergleich zu den Achterzimmern, die selbst in Eliteuniversitäten noch üblich sind, ist das großzügig.

Wie in vielen Ländern im Westen gibt es auch in China ein starkes Gewichtsgefälle zwischen den sozialen Schichten und Regionen. Der Norden, der ärmer ist, an Russland und die Mongolei grenzt und wo die Ernährung stärker von Fleisch und Milchprodukten bestimmt ist, ist stärker betroffen als der Süden, dessen Küche eher südostasiatisch ist. Im reichen Schanghai, das sich als New York Chinas versteht, achten die Menschen auf ihr Gewicht und ihr Äußeres. In den unzähligen Cafés der Stadt, die zwischen den Platanenalleen ein modernes Lebensgefühl ausstrahlen, sitzen junge, schöne und eben dünne Menschen. Der Anteil der Übergewichtigen in den entwickelten Regionen sei deutlich niedriger, sagt Xu. Und wer wenig Geld hat, hat mehr Kilos.

Den westlichen Einfluss auf die Ernährung symbolisieren vor allem zwei amerikanische Fast-Food-Ketten, die die Armen wie die Reichen im ganzen Land versorgen. Selbst in entlegenen Provinzstädten trifft man zuverlässig auf Filialen von McDonald’s und Kentucky Fried Chicken. Die Hähnchenkette hat nach eigenen Angaben mehr als 10.000 Filialen in über 2000 Städten in der Volksrepublik, mehr als doppelt so viele wie in den USA.

Der Boom der Abnehmspritzen

Doch so wie der Wohlstand und westliches Fast Food das Übergewicht gebracht hat, so könnte die Abhilfe nun auch aus dem Westen kommen. Vergangene Woche wurde die Abnehmspritze Wegovy des Pharmakonzerns Novo Nordisk von den chinesischen Behörden zugelassen.

Der Aktienkurs der Dänen, die sich mit Diabetesmitteln in China schon heute als Marktführer sehen, sprang nach der Zulassung erstmals über die Marke von 1000 dänischen Kronen. Der Börsenwert des Konzerns, der der wertvollste in ganz Europa ist, gewann rund 10 Milliarden Euro hinzu.

Legt man die Reaktion, die das Diabetesmittel Ozempic von Novo Nordisk erzeugte, das den gleichen Wirkstoff Semaglutid enthält, zugrunde, dürfte sich auch Wegovy großer Beliebtheit erfreuen. Ozempic ist seit drei Jahren in China erhältlich und wurde vielfach schon außerhalb der Zulassung für die Gewichtsreduktion eingesetzt. Der Umsatz in China schoss im vergangenen Jahr auf 650 Millionen Euro. Das Mittel war in Krankenhäusern und Apotheken lokalen Berichten zufolge immer wieder ausverkauft. Ein soziales Medium ging gegen Beiträge vor, weil diese die Wirkung von Ozempic für den Gewichtsverlust übertrieben hätten. Hat man ein Rezept, ist das Mittel auf Chinas Onlineshopping-Seiten wenige Klicks entfernt.

Entsprechend traten die Dänen nach der Chinazulassung von Wegovy gleich auf die Bremse. Man werde die Verkäufe in China begrenzen, damit die Versorgung im Rest der Welt nicht gefährdet werde, sagte Maziar Mike Doustdar, der Leiter des internationalen Geschäfts von Novo Nordisk. „Es ist kein Geheimnis, dass die Nachfrage sehr viel größer als das gegenwärtige Angebot ist.“ Der Konzern investiert Milliarden in den Ausbau der Produktionskapazitäten.

Denn der Markt, der den Dänen nun offensteht, ist riesig. Novo Nordisk schätzt, dass vor drei Jahren schon rund 184 Millionen Chinesen adipös waren, mehr als das Doppelte der Bevölkerung Deutschlands. Bis zum Ende des Jahrzehnts dürften es 274 Millionen, in zwanzig Jahren knapp 500 Millionen Chinesen sein. Rund 55 Millionen Menschen seien schon heute auf der Suche nach Hilfe.

Oder doch traditionelle Medizin?

Doch die Konkurrenz steht in den Startlöchern. Im Mai erhielt der US-Pharmariese Eli Lilly von den chinesischen Behörden grünes Licht für die Behandlung von Diabetes. Wie bei Novo Nordisk dürfte das Mittel im Alltag aber auch schon für die Gewichtsreduktion eingesetzt werden, bevor Eli Lilly auch dafür die Zulassung erhält.

Zudem drängen eine Reihe chinesischer Konkurrenten auf den Markt. Das Patent von Novo Nordisk für Semaglutid dürfte spätestens in zwei Jahren auslaufen, rund fünf Jahre früher als in Europa oder den USA. Wenn die Dänen einen Rechtsstreit mit einem chinesischen Konkurrenten verlieren, könnte der Schutz sogar noch früher fallen. Erste Produkte chinesischer Hersteller, die eine ähnliche Wirkung haben sollen, sind auch heute schon verfügbar.

Physiologe Xu Jia hat nichts gegen den Einsatz von Medikamenten, sagt er. „Das Wichtigste ist aber, dass man das Problem grundsätzlich löst.“ Die Menschen müssten sich wieder besser ernähren und mehr Sport treiben.

Andere halten wenig von den westlichen Lösungen, sondern vertrauen lieber auf althergebrachte einheimische Methoden. Wang Keyin ist seit drei Jahrzehnten Ärztin für traditionelle chinesische Medizin in Peking und auf Adipositas spezialisiert. Auch sie stellt eine steigende Nachfrage fest, vor allem von Frauen. Ihre Patienten sprechen sie auch auf die Abnehmspritzen an, sagt sie. Doch sie drückt ihre Ablehnung deutlich aus. „Die chinesische Medizin hat den Vorteil der Wirksamkeit. Die chinesische Kräutermedizin ist sicherer und hat weniger Nebenwirkungen“, glaubt die Frau. Neben den Kräutern setzt sie auf Akupunktur, Massage und Schröpfen.

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