Kroos vor EM-Viertelfinale: Der spanischste Deutsche

Der Reporter in der fünften Reihe hebt die Hand. Er arbeitet für die spanische Sportzeitung „Marca“ aus Madrid, die sich Tag für Tag mit dem relevantesten Fußballklub der Stadt auseinandersetzt, mit Real. Und als er am Dienstagmittag im Pressesaal des Deutschen Fußball-Bundes in Herzogenaurach dann seine Frage stellen darf, ahnen alle Anwesenden dort schon, was er wissen will.

Es gibt eine Geschichte, die in diesen Wochen nicht nur in Herzogenaurach, nicht nur im Wohnort der deutschen Nationalmannschaft größer ist als alle anderen. Ihre Hauptfigur ist Toni Kroos, 34 Jahre alt, der erfolgreichste deutsche Fußballspieler des 21. Jahrhunderts, der in den finalen Tagen seiner großen Karriere den einen großen europäischen Titel gewinnen will, den er noch nicht gewonnen hat: die Europameisterschaft. Die Geschichte war sowieso schon gut, weil er, wenn er das schaffen will, den einen Widerspruch in seinem Werk auflösen muss. Und die Geschichte ist in der Zwischenzeit sogar noch ein bisschen besser geworden, weil feststeht, dass sie am Freitag auf eine wirklich spektakuläre Pointe zuläuft.

Doch zurück zum Dienstag. Die Frage, die der spanische Reporter in der fünften Reihe stellt, ist in diesen Tagen immer wieder gestellt worden: Was genau hat sich denn in der deutschen Mannschaft geändert, seit der Mittelfeldspieler Toni Kroos wieder mitspielt?

An diesem Mittag soll der Stürmer Leroy Sané auf sie antworten. „Ruhe, Kontrolle“, sagt er. „Ich glaube, wir waren nicht stabil genug. Das war eine große Schwäche von uns. Die Schwäche hat er uns komplett genommen. Durch die Ruhe, die er selbst mitbringt.“

„Kompassnadel“ der Mannschaft

Das, was Sané mit seinen Worten beschreibt, können die spanischen Reporter seit dem Sommer 2014 aus nächster Nähe beobachten, seit Kroos sich Real Madrid anschloss. Schon in den ersten Minuten des ersten Spiels sagte ein TV-Kommentator damals, dass er die „Kompassnadel“ der Mannschaft sei. Und der Weg, den dieser Kompass in den nächsten zehn Jahren zeigte, führte Real zu Reichtümern, die selbst dieser Fußballklub so noch nicht erlangen konnte. In seinem letzten Spiel im weltberühmten weißen Trikot siegte Toni Kroos vor vier Wochen dann das fünfte Mal mit Madrid in der Champions League. Eine perfekte Pointe.

Doch an diesem Freitag, an dem Kroos im Stadion in Stuttgart mit der deutschen Nationalmannschaft um den Einzug ins EM-Halbfinale spielt, könnte schon die nächste kommen – denn der Gegner ist: Spanien, seine Fußballheimat.

Es wird gleich um diese Pointe gehen, doch davor muss es um den Widerspruch in seinem Werk gehen, der durch den nächsten Sieg in der Champions League noch etwas deutlicher geworden ist. Der Widerspruch besteht darin, dass er seit dem Spätsommer 2014 mit seiner Vereinsmannschaft die Grenzen verschob – und dass er mit seiner Nationalmannschaft die Grenzen aufgezeigt bekommen hat: WM 2018? Aus in der Vorrunde. EM 2021? Aus im Achtelfinale. Dann wollte er nicht mehr. Doch seit diesem März will er wieder.

Meister des Passes

Schon in seinem ersten Spiel gegen Frankreich, dem damals großen EM-Favoriten, das Deutschland 2:0 gewann, sah man, wie eindrucksvoll es ist, dass ein einziger Spieler den Rhythmus eines ganzen Spiels steuern kann. Im ersten EM-Spiel gegen Schottland gipfelte das in dieser Statistik: 103 Pässe gespielt, 102 Pässe angekommen. Eine Toni-Kroos-Masterclass. Seitdem ist – durch die veränderte Verteidigungsstrategie der Gegner gegen ihn (Manndeckung) – sein Einfluss etwas kleiner geworden, aber auch der Widerspruch: Weil Toni Kroos mit seiner Spielweise die deutsche Mannschaft zusammenhält, wird vor dem Viertelfinale wohl nur ein Team noch höher eingeschätzt. Das Problem ist, dass Deutschland gegen dieses Team spielen muss. Es ist das spanische.

Doch das Problem führt auch zu der Pointe: wenn Toni Kroos, der Meister des Passes, der spanischste Fußballspieler Deutschlands, in seinem letzten Turnier mit der Nationalmannschaft die Spanier schlagen könnte.

In der Geschichte um Toni Kroos und der Nationalmannschaft tummeln sich größere und kleine Nebenfiguren. Der Bundestrainer Julian Nagelsmann, der erkannte, dass er Kroos braucht, aber auch sah, unter welchen Umständen der in Madrid die beste Version seiner selbst war. Und so stellte Nagelsmann dem spanischen Deutschen den deutschen Anti-Spanier an die Seite: Robert Andrich.

Kroos mit dem Anti-Spanier an die Seite: Robert Andrich
Kroos mit dem Anti-Spanier an die Seite: Robert AndrichAP

Seit Kroos’ Rückkehr im März spielt Andrich neben Kroos. Bei der EM, seinem ersten Turnier mit 29 Jahren, führte er sich im Eröffnungsspiel ein, wie es seinem Selbstbild entspricht: mit einer Grätsche in den Gegner. Wer jedoch nur vom Äußeren des Tätowierten mit Rauschebart auf die inneren Werte des deutschen Spiels schließt, wird Andrich nicht gerecht. Der sieht eine Aufgabe in der Zuarbeit für Stratege Kroos. Aber nicht nur. „Es wird auch mal die Situation geben, dass ich einen Pass spiele – und er einen Zweikampf führt“, sagt Andrich über die Rollenverteilung mit Kroos.

Die Zahlen der ersten vier EM-Spiele stützen die These. Zwar spielte er gegen Schottland die meisten seiner Pässe, neun, zu Kroos, bekam aber auch selbst die meisten, neun, vor ebendiesem. Ähnlich sind die Statistiken gegen Ungarn (16 Pässe von Andrich zu Kroos, 11 von Kroos zu Andrich) und gegen die Schweiz (21/17). Im Achtelfinale gegen Dänemark spielte Kroos den Ball sogar öfter zu Andrich (14) als andersherum (10).

Die Gegner stellen sich auf das deutsche Spiel ein – und Kroos vermehrt zu. So wird Andrich wider Willen zum Spielmacher. Und doch dürfte es gegen Spanien vor allem auf Andrichs „Drecksackmentalität“ ankommen, die Nagelsmann so schätzt und die, weil sie im Kern des Spiels über Jahre fehlte – und damit der Kern des deutschen Problems war.

Am Mittwochmittag sitzen wieder mehrere spanische Reporter im Pressesaal in Herzogenaurach. Dieses Mal müssen sie nicht Fragen über Kroos stellen, sondern können Fragen an Kroos stellen. Er sitzt im weißen Trainingsanzug auf dem Podium und spricht vor dem Viertelfinale mehr als 30 Minuten über das Spiel, das das letzte seiner Karriere werden könnte.

Deutschlands Toni Kroos gibt taktische Zeichen.
Deutschlands Toni Kroos gibt taktische Zeichen.dpa

Nachdem die deutschen Reporter ihre Fragen gestellt haben, dürfen vier spanische. Kroos lächelt, er fühlt sich offensichtlich wohl beim Klang ihrer Sprache und antwortet in fließendem Spanisch. Er soll, vermutlich schwingt da ein wenig spanische Parteilichkeit mit, erklären, wie es sich anfühlt, vielleicht, zwei Tage vor dem Karriereende zu stehen. „Zu wissen, dass es das letzte Spiel sein kann“, sagt er und lächelt, „ist eine große Motivation, dafür zu sorgen, dass es eben nicht das letzte ist.“

Schon zuvor hat er, auf Deutsch und ein wenig ernster, erzählt, dass er Pressekonferenzen weniger vermissen werde als das Fußballspielen. Aber „ich bin überhaupt nicht nostalgisch“. Große Angst, sagte Kroos, habe er nicht vor dem Karriereende, das er ja selbstbestimmt wählte, er weiß aber auch: „Es wird nie wieder was geben, was ich so gut kann wie Fußballspielen.“

Bevor Kroos im März zurückkehrte, gab es große deutsche Zweifel beim Blick auf die EM. Mit dem Viertelfinale sei ein „gewisses Minimalziel“ erreicht. Sollte das Turnier, und damit seine Laufbahn, mit dem Spiel gegen Spanien enden, könne man „nicht mehr von einer Katastrophe sprechen“. Dennoch sei das Ziel, das Turnier zu gewinnen. Das wäre ein „sensationelles Ende“, aber es sei schwer, „einen EM-Titel einzuplanen“. Mit Real Madrid wurde Kroos zuletzt noch mal Meister und Champions-League-Sieger. „Es wäre schwer gewesen, dass es erfolgreicher ist. Jetzt versuche ich das Gleiche hier.“

Helfen soll die Gewinnermentalität von Real. Einfach weitergeben könne er die aber nicht, das gehe nur über Erfolgserlebnisse. „Ich glaube, dass der Glaube in der Mannschaft extrem gewachsen ist.“ Er erinnerte an den Rückstand und den Treffer kurz vor Ende im Testspiel im März gegen die Niederlande. „Dieser Sieg hat uns viel gegeben.“ Er erinnerte an Probleme im EM-Duell mit Ungarn, den Rückstand gegen die Schweiz, „gegen Dänemark ging es auch nicht alles glatt. Aber man sieht unsere Schritte“. Der nächste folgt gegen Spanien am Freitag. Und als er in die Pressekonferenz auf die Spanier angesprochen worden ist, auf die spektakulären Außenstürmer Nico Williams und Lamine Yamal, sagte er, dass er glaube, dass „solche Spiele in der Mitte entschieden werden“.

Dort spielt der Spanier Rodri, der Mittelfeldstratege Manchester Citys, den manche Experten für den besten der Welt auf dieser Position halten. Und dort spielt Toni Kroos. Es kommt in solchen Spielen nur selten auf einen einzigen Spieler an. Doch damit Deutschland gewinnen kann, wird Kroos wohl noch einmal zeigen müssen, dass er ein Spieler ist, den selbst diese Spanier so nicht haben.

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