Verwirrung um das „Stechuhr-Urteil“ – erleben wir den größten Rechtsbruch des Landes?

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Im politischen Berlin gilt Arbeitsminister Hubertus Heil als einer, der Gesetzesvorhaben im Schnellverfahren durchboxt. In einem Fall gilt jedoch das Gegenteil: beim umstrittenen Plan zur Arbeitszeiterfassung. Mehr als ein Jahr ist es nun her, dass ein Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums (BMAS) an die Presse gelangte.

Der Hintergrund: Ende 2022 hatte das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass das sogenannte Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2019 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Demnach müssen alle Beschäftigten ihre Arbeitszeit täglich dokumentieren und der Arbeitgeber die Nachweise aufbewahren.

Unternehmen, in denen das nicht bereits Standard ist, sind demnach verpflichtet, entsprechende Systeme einzuführen. Seitdem hat sich aber nichts getan. Schon Mitte Oktober auf dem Arbeitgebertag sagte Heil, die Zeiterfassung sei nicht sein „Hauptthema im Moment“. Im Übrigen wolle er nicht wieder „die Stechuhr einführen“, sondern sei für „flexible Lösungen“.

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Es war der Versuch des Ministers, die Wirtschaftsvertreter zu beschwichtigen. Aus deren Sicht passt ein neues Gesetz so gar nicht in die Pläne zum „Bürokratieabbau“ der Ampel.

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Seitdem wird die Arbeitszeiterfassung prominent ignoriert. „Leider überrascht es mittlerweile niemanden mehr, wenn die Ampel mehr als zwei Jahre braucht, um gerichtliche Vorgaben in gesetzliche Regeln umzumünzen“, sagt Bernhard Stehfest, Leiter Wirtschaftspolitik der Stiftung Familienunternehmen. Auf die Fragen dieser Redaktion antwortet Heils Ministerium einsilbig: „Der Gesetzentwurf befindet sich in der regierungsinternen Abstimmung. Diese bleibt abzuwarten.“

Umso bemerkenswerter, dass die im Mai 2023 veröffentlichten Rechtsbelehrungen von Heils Beamten geradezu drastisch formuliert sind. Kurz gesagt suggeriert das Ministerium: Betriebe, deren Angestellte die Arbeitszeit nicht erfassen, und die die Nachweise nicht zwei Jahre lang aufbewahren, brechen geltendes Recht.

Ein kafkaeskes Arbeitszeitgesetz

Und spätestens an diesem Punkt wird es kafkaesk. Ist eine Dokumentation nicht bereits im Vertrag geregelt, gibt es nämlich keinerlei Sanktionen, wenn Beschäftigte ihre Arbeitszeit nicht erfassen. Genau diesen Fall, der täglich wohl millionenfach stattfindet, müsste ein Gesetz regeln – das bis heute nicht existiert.

„Die Pflicht besteht ganz klar“, sagte der Hamburger Arbeitsrechtler Michael Fuhlrott bereits Ende 2023. „Sie wird aber vielerorts einfach nicht umgesetzt.“

Inwieweit die Mitgliedsfirmen der Stiftung Familienunternehmen die Vorgaben umsetzen, könne man nicht sagen, so Stehfest. Noch immer seien Fragen zu inhaltlichen Anforderungen an die Arbeitszeiterfassung offen; unklar auch, ob es für leitende Angestellte Ausnahmen geben soll.

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Doch nicht arbeitsscheu?

Insoweit sei es nachvollziehbar, dass Unternehmen auf konkrete Vorgaben warten, bevor sie „ein aufwendiges und kostspieliges System einrichten“, sagt Stehfest. Bislang mache man gute Erfahrungen mit der Vertrauensarbeitszeit.

Auch das ist ein Grund, warum das Vorhaben stockt. Die Vertrauensarbeitszeit soll weiterhin möglich sein, wenn beide Seiten sich darauf einigen. Laut Fuhlrott widerspricht das aber der strengen Pflichterfassung. „Es gibt da keinen Spielraum“, sagt der Jurist mit Verweis auf das Urteil.

Im Entwurf des Ministeriums von 2022 heißt es, dass Unternehmen im Fall der Vertrauenszeit sicherstellen müssen, dass ihnen Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz zu Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden – beispielsweise durch die elektronische Zeiterfassung. Das bedeutet: Eine Aufzeichnungspflicht muss nicht zwangsweise eine Kontrollpflicht mit sich ziehen.

Ampel bei Arbeitszeiterfassung zerstritten

Mit diesem Kompromiss könnten viele Unternehmen wohl leben. „Zeit- und ortsflexibles Arbeiten ist in vielen Unternehmen spätestens seit der Corona-Pandemie zum Standard geworden“, sagt Adél Holdampf-Wendel. Die Bereichsleiterin für Arbeitsrecht beim Digitalverband Bitkom warnt jedoch: Eine detaillierte Dokumentation würde bedeuten, dass privates Surfen oder Telefonate und Gespräche mit Kollegen als Freizeit erfasst werden müssten.

Die Zeiterfassung sei ein Mittel gegen unbezahlte Überstunden, heißt es wiederum beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). 1,3 Milliarden Überstunden haben Beschäftigte hierzulande 2022 geleistet, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht – die Partei spricht von „Lohnraub“. Umgerechnet sind das pro Arbeitnehmer etwa 31 Überstunden; allerdings ist dieser Wert seit Jahren rückläufig.

Nach Darstellung der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di liegt auch deshalb noch kein Gesetz vor, weil die FDP die Verhandlungen blockiert. Die Liberalen würden „ihre Zustimmung an entsprechende politische Gegengeschäfte koppeln“, heißt es auf Nachfrage.

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Von „Experimentierräumen bei der Flexibilisierung der Arbeitszeitgestaltung für tariflich gebundene Unternehmen“ spricht Pascal Kober. Sie seien im Koalitionsvertrag vereinbart worden, fehlten aber in Heils Entwurf, so der arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP. Konkret geht es um Abweichungen bei der täglichen Höchstarbeitszeit.

„Die EU-Kommission hat deutlich gemacht, dass sie im Fall von Deutschland keinen Handlungsbedarf sieht, was die Arbeitszeiterfassung betrifft“, meint Kober. „In einem Bericht zur Umsetzung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie von März 2023 wird Deutschland nicht unter den Ländern genannt, die hier nachbessern müssen.“

„Die Ampel ist bei Arbeitszeit und Arbeitszeiterfassung heillos zerstritten“, sagt Stephan Stracke. Das Urteil des Arbeitsgerichtes lasse weiten Spielraum, wenn man es genau lese, findet der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CSU-Fraktion. Er fordert den Verzicht auf eine zwingende elektronische Erfassung; Unternehmen und Beschäftigten sollten das Mittel der Dokumentation frei wählen können.

Anwalt sieht „juristisches Defizit“

Steffen Kampeter indes hält es für richtig, dass sich Heils Beamte „ausreichend Zeit für eine sorgfältige Prüfung“ lassen. Der Entwurf von 2022 sei ein „Schnellschuss“ gewesen, der wenig mit der „Ankündigung einer bürokratiearmen Arbeitszeiterfassung“ zu tun gehabt hätte, sagt der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes (BDA). Eine Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes dürfe sich nicht auf die Dokumentation beschränken, sondern müsse auch Höchstarbeitszeit und Ruhezeiten reformieren.

„Die Regierung weiß schon lange, dass es ein juristisches Defizit gibt, kümmert sich aber nicht. Das ist keine gute Regierungspolitik“, kritisiert Michael Fuhlrott. „In dieser Legislatur ist wohl kaum noch ein Gesetz zu erwarten.“

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Sollten aber die Arbeitsschutzbehörden in den Bundesländern nachfragen, könnten Unternehmen heute schon Bußgelder drohen, wenn sie die Arbeitsstunden ihrer Beschäftigten nicht festhalten, heißt es beim DGB.

Jurist Fuhlrott ist nicht bekannt, dass das bereits vorgekommen ist. Die erste Strafe für ein Unternehmen wäre dann wohl ein Präzedenzfall.

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