Bislang hatten sich syrische Flüchtlinge im türkischen Grenzort Reyhanlı noch relativ sicher gefühlt. Seit dem 1. Juli ist das anders.
Nach jenem Montag vor vier Wochen trauten sich die meisten Syrer tagelang nicht auf die Straße. Nicht einmal, um Brot zu kaufen. Manche sind so erschüttert, dass sie 13 Jahre nach ihrer Flucht aus Syrien über eine Ausreise nachdenken. Entweder zurück ins zerstörte Reich des Machthabers Baschar al-Assad. Oder mit Schleusern nach Europa. Den Preis dafür kennt hier jeder: 12.000 Euro.
Was ist am 1. Juli in Reyhanlı geschehen? Es begann am Nachmittag im sogenannten Mittwochsbasar. Dort wurden mehrere syrisch geführte Läden mit Steinen angegriffen. „Wir waren gerade dabei, schnell den Laden zu schließen, als wir Motorräder hörten“, erzählt ein 18 Jahre alter Verkäufer, nennen wir ihn Dschalil. In sozialen Medien hatte er vorher schon erste Warnsignale gesehen: Bilder von marodierenden Türken in Städten wie Gaziantep, Istanbul und Antalya.
Die Motorräder verfolgten ihn, ließen dann aber von ihm ab. Ein Stein zerschlug das Schaufenster des Geschäfts. Auch die Windschutzscheibe eines Autos, das wegen des Ms auf dem Nummernschild als ausländisches Fahrzeug zu erkennen war. M wie misafir (Gast).
„Wir wollen keine Flüchtlinge im Land“
Im 30 Kilometer entfernten Nachbarort Kırıkhan wurde ein Lebensmittelgeschäft in Brand gesetzt. Bewohner sagen, die Polizei habe dabei zugeschaut. Türkische Jugendliche fuhren in Motorradkonvois durch die Straßen und ließen drohend ihre Motoren aufheulen. Am Abend versammelten sie sich vor dem Rathaus von Reyhanlı. Sie schwenkten Nationalflaggen und skandierten lauthals „Wir wollen keine Flüchtlinge im Land“.
Der gleiche Schlachtruf war später beim EM-Viertelfinale Türkei gegen Niederlande in Berlin zu hören. Am Rathaus in Reyhanlı soll an jenem Abend ein Mann bei einem Messerangriff verletzt worden sein. Genau weiß man das nicht, denn die Polizei schweigt. In den kommenden Tagen war die Stadt so ausgestorben, dass für alle sichtbar wurde, wie sehr die Syrer das Leben dort prägen. Nach offiziellen Angaben sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung syrischer Abstammung.
Es war längst nicht das erste Mal, dass sich der Unmut über die Flüchtlinge in Gewalt entlud. Aber diesmal war es anders. „Es kam einem so vor, als wäre das alles geplant gewesen“, sagt Dschalil, der Verkäufer. Er hat, wie viele, den Verdacht, dass der Staat die Täter gewähren ließ, um den Druck auf die Flüchtlinge zu erhöhen, damit sie einer sogenannten „freiwilligen Rückkehr“ zustimmen. Was den Leuten Angst macht, ist die eigene Machtlosigkeit. Das Gefühl, dass sich etwas zusammenbraut.
Dabei hat Dschalil schon viel Schlimmeres erlebt. Im Juni wurde er von türkischen Jugendlichen mit einem Messer angegriffen. Zwei tiefe Narben an Arm und Schulter zeugen davon. Ein Video zeigt, wie er am helllichten Tag in seinem Blut auf dem Bürgersteig liegt. Keiner der Syrer, die die Tat mit ansahen, wagte es, einzugreifen oder einen Krankenwagen zu rufen. Sie fürchteten, deportiert zu werden. Zur Hilfe eilten Dschalil türkische Passanten. Dieses Erlebnis war schlimm genug. Noch mehr beunruhigt ihn aber das Zusammenspiel der Ereignisse vom 1. Juli. Das Gefühl, das dahinter mehr steckt als ein spontaner Gewaltausbruch.
An jenem Tag spielten sich in Gaziantep, Istanbul, Antalya und mehreren anderen Städten ähnliche Szenen ab. In Antalya wurde ein syrischer Jugendlicher erstochen. Mehr als tausend mutmaßliche Randalierer wurden nach Angaben des Innenministeriums festgenommen. Angefangen hatte alles einen Tag vorher in Kayseri im Zentrum des Landes. Nachdem sich dort der Verdacht verbreitet hatte, ein Syrer habe in einer öffentlichen Toilette seine kleine Nichte missbraucht, zog ein wütender Mob durch die Straßen und setzte mehrere syrisch geführte Geschäfte in Brand.
Es folgte eine Kettenreaktion: Die Bilder aus Kayseri erhitzten die Gemüter in den türkisch besetzten Gebieten im Norden Syriens. Syrische Rebellen, eigentlich Verbündete Ankaras, griffen türkische Militärposten an und setzten, etwa in der Stadt Al-Bab, türkische Lastwagen in Brand. Einer der verprügelten Lastwagenfahrer stammte aus Reyhanlı.
„Das Problem waren nicht die Lastwagen, sondern die Flaggen“, sagt ein syrischer Bauunternehmer in Reyhanlı. Denn an syrischen Orten wie in Afrin wurden türkische Fahnen geschändet. Die türkische Volksseele kochte. Der Unternehmer sorgte sich um sein ebenfalls mit einem M markiertes Auto vor dem Haus. Ein türkischer Nachbar kam ihm zu Hilfe. Er stellte seinen Hof als Parkplatz zur Verfügung, um das Fahrzeug vor Randalierern zu schützen. Beispiele solcher Nachbarschaftshilfe werden nun vielfach erzählt. „In Reyhanlı ist weniger passiert als anderswo, weil die Türken es nicht zugelassen haben“, sagt der Bauunternehmer. Die Ereignisse hätten jedoch die Sorge genährt, „dass etwas Schlimmeres passieren wird“.
Die Angst hat mit der Syrienpolitik des türkischen Präsidenten zu tun. Drei Tage vor den Ereignissen von Kayseri hatte Recep Tayyip Erdoğan ein Treffen mit dem syrischen Machthaber Assad ins Gespräch gebracht. Pro-türkische Rebellen in Syrien witterten Verrat. Das war ein weiterer Grund für die Fahnenschändung. Erdoğan erinnerte daran, dass die Beziehungen zwischen ihm und Assad einst so gut waren, dass sie 2009 zusammen Familienurlaub in Bodrum machten.
Plötzlich sucht auch Erdogan wieder Kontakt zu Assad
Nach dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges 2011 stellte Erdoğan sich dann auf die Seite der Rebellen, die Assad stürzen wollten. Im Kielwasser der Arabellion und im Verbund mit den Muslimbrüdern wollte er die Türkei zu einer führenden Regionalmacht machen.
Seit die Arabische Liga den syrischen Diktator im vergangenen Jahr rehabilitiert hat, sucht auch Erdoğan die Wiederannäherung. Dabei verfolgt er drei Ziele: Die Türkei soll bei der Neuordnung Syriens eine Rolle spielen. Kurdische Autonomiebestrebungen sollen geschwächt und ein Erstarken kurdischer Milizen verhindert werden. Und möglichst viele der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge sollen die Türkei wieder verlassen. Zumindest will Erdoğan den Anschein erwecken, dass dies bald möglich sein werde.
Der Zeitpunkt seines Vorstoßes hat mit den Kommunalwahlen im vergangenen März zu tun. Der Präsident erlitt seine bisher größte Niederlage. Erstmals seit seinem Machtantritt vor zwanzig Jahren wurde seine Partei AKP nicht mehr stärkste Kraft. Die meisten Stimmen gingen an die Republikanische Volkspartei (CHP), die nun darauf hofft, Erdoğan bei den nächsten Präsidentenwahlen aus dem Amt zu jagen. Die Illusion von der massenhaften Rückkehr der Syrer ist eines ihrer wichtigsten Themen. Parteichef Özgür Özel kündigte an, noch im Juli nach Damaskus zu reisen, um „das Flüchtlingsproblem der Türkei zu lösen“.
Um wieder in die Offensive zu kommen, spricht der Präsident nun seinerseits bei jeder Gelegenheit über ein Treffen mit Assad. Regierungsnahe Medien berichten atemlos über angebliche Vorbereitungen. Selbst wenn es zu einer Begegnung kommen sollte, glaubt niemand an eine Einigung, solange die Türkei Teile Syriens militärisch besetzt hält. Ankara wird seine Soldaten schon deshalb nicht zurückziehen, weil ihre Präsenz derzeit auch dazu dient, die Ankunft Hunderttausender weiterer Flüchtlinge zu verhindern. Selbst im Falle einer Einigung dürften viele geflohene Syrer etwaigen Sicherheitszusagen Assads kaum Glauben schenken.
Wenn einige nun dennoch an Rückkehr denken, liegt das daran, dass die Lage in der Türkei für sie immer unerträglicher wird. „Ich würde sofort zurück nach Idlib gehen“, sagt die Kleinunternehmerin Fatima, die seit 13 Jahren in der Türkei lebt. Die Mittvierzigerin sitzt auf einem Sofa in einer Wohnung in Sichtweite der Grenze. Sie kennt Frauen, die wegen der ständigen Angst vor Deportation gegangen sind und nun in einem Lager für Binnenflüchtlinge im türkisch kontrollierten Teil Syriens ausharren. Sie selbst hielten nur ihre Kinder zurück, sagt Fatima. Ihr Sohn studiert Zahnmedizin, ihre Tochter besucht ein Gymnasium. Beides sei in Idlib nicht möglich.
Fatimas größtes Problem ist ihre Miete. Sie hat sich nach dem Erdbeben vom Februar 2023 verdoppelt. Zehntausende Obdachlose kamen nach Reyhanlı. Wohnraum ist knapp. Viele Türken zogen weg. Syrer dürfen das nicht. Sie müssen in dem ihnen zugewiesenen Stadtviertel bleiben. Selbst innerhalb des Viertels ist ein Umzug heikel. „Sobald du aus dem Melderegister verschwindest, wirst du abgeschoben“, sagt Fatima.
Syrer, die bei dem Erdbeben ihre Wohnungen verloren, müssten sich nun „wie Kaninchen verstecken“. Viele Vermieter nutzen das schamlos aus und kassieren Wuchermieten. Manche verkaufen auch nur den Eintrag im Melderegister, ohne Wohnung. „Ökonomische Gewalt“ nennt Fatima das. Sie zieht ihren Ausweis aus der Tasche. „Temporärer Schutz“ steht dort in großen Buchstaben. Ein Leben auf Abruf nach 13 Jahren Türkei. Ihr zweiter Sohn lebt seit neun Jahren in Bayern – und hat gerade seinen deutschen Pass abgeholt. Er zahlt jetzt ihre Miete.
Was Fatima am meisten geschockt hat, sind die Internetkommentare von türkischen Bekannten. Nach den Übergriffen schrieben sie in ihren Whatsapp-Status „Reinigt Reyhanlı von den Syrern“. Es ist nicht schwer, in Reyhanlı Leute zu finden, die Ähnliches frei heraus sagen. „Ich finde, die Regierung sollte die Syrer zurückschicken“, sagt ein Mann um die 40, der mit Frau und Tochter vor dem Rathaus auf einer Rasenfläche sitzt. Sie warten auf eine Hochzeitsgesellschaft. Ihre Namen wollen sie nicht nennen. Die Syrer seien als Gäste gekommen. Und nun sei es genug.
Syrerinnen als rechtlose Zweitfrauen für Türken
Der Mann betreibt einen Laden und klagt, dass viele Syrer ihre Waren aus der Not billiger verkaufen und für geringere Löhne arbeiten. Das treibe Türken in die Arbeitslosigkeit. Die liegt in der Region offiziell bei neun Prozent. Auch die Ressourcen an den Schulen und in den Krankenhäusern reichten nicht aus.
Seine Frau treibt ein anderes Thema um: Viele türkische Männer nähmen sich Syrerinnen als Zweitfrau, obwohl die Vielehe in der Türkei verboten ist. Das führe in vielen Familien zu Konflikten. Bei Ehestreit sei die Drohung mit einer Zweitfrau schnell bei der Hand. „Ich bringe dich um, wenn du das machst“, sagt die Frau zu ihrem Mann und lacht. Was sie nicht sagt: Die syrischen Zweitfrauen sind rechtlos. Ihre Kinder werden oft unter dem Namen der türkischen Ehefrau registriert. Die Leute hätten die Nase gestrichen voll, sagt die Frau vor dem Rathaus noch. „Es reicht ein Funke, und sie werden die Syrer zwingen zu gehen.“
Es gibt aber auch Leute in der Stadt, die sich aktiv für die Flüchtlinge einsetzen. Sie erinnern daran, dass die Bewohner seit Jahrzehnten enge Verbindungen nach Syrien pflegen. Viele haben Verwandte dort und sprechen Arabisch. Die Region gehörte lange zum französischen Mandatsgebiet in Syrien und wurde 1939 erst nachträglich in die damals noch junge Republik Türkei eingegliedert. Anfangs waren die Flüchtlinge in Reyhanlı mit offenen Armen empfangen worden. Man glaubte, sie würden nicht lange bleiben.
2013 kam es zu ersten gewaltsamen Übergriffen auf Syrer, nachdem bei zwei Bombenanschlägen in der Stadt mehr als 50 Menschen getötet und 146 verletzt wurden. Der Unmut wuchs, je tiefer das Land in die Inflationskrise rutschte. Offiziell liegt die Teuerung derzeit bei 72 Prozent. Dann kam 2023 das Erdbeben und machte alles noch viel schlimmer. Die Syrer wurden zu Sündenböcken. Bis heute traut sich kein türkischer Politiker, das Wort „Integration“ in den Mund zu nehmen, obwohl in der Zwischenzeit rund 800.000 syrische Kinder in der Türkei geboren wurden.
Die Angriffe auf Syrer setzen sich derweil im virtuellen Raum fort. Die persönlichen Daten Hunderttausender syrischer Flüchtlinge wurden gehackt und auf der Plattform Telegram verbreitet, gepaart mit Gewaltaufrufen. Das Datenleck weckt auch Befürchtungen, die Adressen, Telefonnummern und Passdaten könnten von Kriminellen für Straftaten und vom syrischen Geheimdienst für Repression missbraucht werden. Die Polizei hat nach eigenen Angaben den vierzehnjährigen Administrator der Telegram-Gruppe festgenommen. Von dem gleichen Konto sei ein Aufruf zum „Aufstand“ gegen Syrer in einem Vorort von Istanbul verbreitet worden.
Die Gruppe ist nicht die einzige, die Hetze gegen Flüchtlinge mit Regierungskritik verbindet. Schon der Mob in Kayseri hatte Rücktrittsforderungen gegen Erdoğan skandiert und dazu den Wolfsgruß gezeigt, das Erkennungszeichen der rechtsextremen Grauen Wölfe.
Die Opposition schürt Ängste vor einem Bevölkerungsaustausch. „Weil Syrer mehr Kinder haben, werden sie in drei bis fünf Jahren in der Mehrheit sein. Das ist ein Sicherheitsrisiko“, sagt Yılmaz Sinirli, der lokale Parteichef der CHP in Reyhanlı. Dieses Narrativ hat auch deshalb viele Anhänger, weil das Flüchtlingsthema Teil des türkischen Kulturkampfes geworden ist. Erdoğan-Gegner unterstellen dem Präsidenten, den Zuzug von Syrern geschürt zu haben, um die Gesellschaft zu islamisieren.
Kaum einer wagt es, die Gewalt gegen Syrer offen anzuprangern
„Das soziale Gefüge ist zerrissen“, sagt Sinirli. Wegen des Bevölkerungsanstiegs leide die Stadt an Wasserknappheit. Die Türken könnten sich die Mieten nicht mehr leisten, weil sie anders als Syrer nicht mit anderen Familien eine Wohnung teilten. Das Bildungsniveau an den Schulen sei gesunken, weil viele syrische Kinder zu wenig Türkisch könnten. Der türkische Präsident wirft der CHP vor, die Übergriffe mit flüchtlingsfeindlicher Rhetorik geschürt zu haben. Die Opposition gibt wiederum Erdoğan die Schuld. Seine verfehlte Außenpolitik, der Abbau des Rechtsstaats und die von ihm zu verantwortende Finanzkrise hätten die Lage verursacht.
Es gibt nicht viele Menschen vor Ort, die es wagen, die Gewalt gegen Syrer offen anzuprangern. „Dies ist eine Situation, in der eine Einmischung sich rächen könnte“, gesteht ein Bewohner. Er gehöre einer alteingesessenen kurdischen Familie an. „Solche Dinge kommen später wieder zurück.“ Er habe einem Nachbarn Schutz angeboten und ansonsten „um ehrlich zu sein“ zugeschaut, sagt der Mann. „Wenn du sagst ‚tut das nicht‘, werden sie fragen: ‚Bist du ein Staatsfeind?‘“
Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass ausgerechnet ein Taiwaner zu den wenigen gehört, die aktiv daran arbeiten, das Misstrauen zwischen Syrern und Türken abzubauen. Chen-Yu Chiu hat 2020 das Gemeindezentrum „Taiwan Reyhanlı Center“ gegründet. Täglich kommen bis zu 500 syrische und türkische Kinder hierher, um Englisch, Türkisch, Arabisch oder Schach zu lernen, Fußball oder Basketball zu spielen. Seit Jahren beobachtet er, wie die Lage in der Stadt immer schlimmer wird. „Die einzige Hoffnung sind die Kinder“, sagt er. Um das Zentrum vor rassistischen Angriffen zu schützen, hat Chiu an allen Eingängen große türkische Flaggen anbringen lassen. „Das Problem ist der Nationalismus, und die Lösung ist auch der Nationalismus“, sagt er sarkastisch.
Antworten