Eine Splitterpartei ist die AfD auch im Eichsfeld nicht, sie erhielt in der Europawahl 26,9 Prozent der Stimmen, vier Prozentpunkte weniger als in Thüringen insgesamt. Aber in diesem Landkreis gilt bei allen Wahlen: An der CDU kommt die AfD nicht vorbei.
Wer sich fragt, warum die AfD es hier schwerer hat als in anderen Regionen im Osten Deutschlands, stößt bald auf eine weitere Besonderheit: Das Eichsfeld ist der einzige Landkreis in Thüringen, in dem Katholiken in der Mehrheit sind, sie machen mehr als 65 Prozent der Bevölkerung aus. Da drängt sich die Vermutung auf, dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte.
Sind kirchentreue Katholiken resistenter gegenüber der AfD und immer noch eine sichere Bank für die Unionsparteien? Macht ein fest gefügtes katholisches Weltbild immun gegen politischen Extremismus und völkischen Nationalismus?
Gregor Arndt ist zurückhaltend. Dass die Wahlergebnisse unmittelbar mit dem Glauben der Eichsfelder zu tun haben, würde er nicht ohne Weiteres unterschreiben. Wenn der Pfarrer von Sankt Maria Magdalena in Leinefelde-Worbis vom Eichsfeld erzählt, dann redet er nicht zuerst über Standhaftigkeit gegenüber politischen Extremen, das christliche Menschenbild oder die katholische Lehre.
Er redet von Familie, Zusammenhalt und Kirmes – und das klingt fast so, als spräche er über Italien: „Familie heißt hier auch für die jungen Leute nicht Vater-Mutter-Kind. Da gehört auch die Oma und der Opa dazu, die Onkel und die Tanten. Eine besondere Rolle spielen auch die Paten“, erzählt Arndt. „Jugendliche sagen mir hier: ‚Am Freitag fahre ich zur Kirmes, aber zuerst besuche ich Oma.‘ Das ist ganz selbstverständlich. Und natürlich wurde dieser familiäre Zusammenhalt von der Kirche entscheidend mitgeprägt.“
Das Leben hier ist von Tradition geprägt
Die Kirmes, das ist in Leinefelde ein Tag, dem die Leute entgegenfiebern. Zum Fest der heiligen Maria Magdalena kommt man im Juli zwischen Autoscooter, Karussell und Bratwurststand zusammen. Ein Drittel der Brautpaare, die zu ihm kämen, habe sich auf einer Kirmes kennengelernt, sagt Arndt. „Kirmesburschenvereine“ spielten eine große Rolle, das Vereinsleben überhaupt, freiwillige Feuerwehren und Kirchenchöre. Arndts Pfarrei zählt rund 8000 Katholiken und hat allein fünf Kirchenchöre.
Auch sonst wird das Leben der Eichsfelder noch stark durch die katholische Tradition geprägt, wie ein Ehepaar aus der Gemeinde berichtet, beide um die fünfzig Jahre alt, das Arndt zum Gespräch in sein Pfarrhaus eingeladen hat. „Das Gemeinschaftsleben wird durch die kirchlichen Feiertage durchgetaktet“, erzählt die Frau. „Das heißt nicht, das jeder unbedingt in den Gottesdienst geht. Aber Ostern etwa putzt man die Fenster und reinigt die Straße. Und dabei trifft man die Nachbarn und kommt ins Gespräch.“
Pfarrer Arndt würde sich nicht auf die Kanzel stellen und den Gläubigen sagen, dass ein Christ die AfD nicht wählen könne. „Das in eine Predigt einzubauen, damit tue ich mich schwer. Aber ich bin froh, dass die Bischöfe sich klar positioniert haben. Das musste mal gesagt werden“, sagt der Priester. Die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Titel „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ vom Februar dieses Jahres hat Arndt weder verlesen noch ausgehangen. Die katholischen Bischöfe hatten darin erstmals ausdrücklich gesagt, dass die AfD für einen Christen nicht wählbar sei.
Die Eheleute im Pfarrhaus finden, die Bischöfe hätten schon recht. Der Mann sagt: „Im Prinzip sind das christliche Menschenbild und das Gebot ‚Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst‘ unvereinbar mit der schlechten Behandlung von Menschen anderer Abstammung.“ Aber im Alltag versuche man, dem offenen Konflikt auch in der Kirche aus dem Weg zu gehen. Seine Frau pflichtet ihm bei: „Zu DDR-Zeiten hat meine Mutter vor Familienfesten immer gesagt: ‚Wir reden nicht über Krankheiten und schon gar nicht über Politik‘, weil es einen Onkel gab, der ein SED-Mann war. So ist das heute auch mit der AfD, auch in der Pfarrei, ohne dass das offen ausgesprochen würde.“
Wer durch Leinefelde-Worbis spaziert, merkt schnell: Das Eichsfeld ist nicht nur katholischer als andere Landkreise. In der Kleinstadt gibt es reichlich Geschäfte, Arztpraxen und Kinder, und selbst die Plattenbauten sehen aus wie mit dem Staubwedel darübergewischt. „Es gibt hier die Probleme, die die AfD groß machen, nicht“, sagt der Mann im Pfarrhaus. „Das Thema Migranten spielt hier keine große Rolle und den Leuten geht es gut.“
Sind Katholiken vielleicht auch zufriedenere Menschen? So weit würde die Frau nicht gehen, aber sie sagt: „Uns hilft sonntags die Predigt im Gottesdienst. Wenn man rausgeht mit einem optimistischen Gefühl. Man hat die alltäglichen Probleme, und dann kommen die Predigt, das Evangelium, die Lieder, und man verlässt die Messe mit einem gestärkten Gottvertrauen.“ Das gebe es im Eichsfeld vielleicht doch mehr als anderswo. Und wenn man so ein Gefühl habe, dann könne man auch die Welt nicht so schlecht sehen.
Im Eichsfeld sind die Kirchen recht gut besucht
12,6 Prozent aller Katholiken im Eichsfeld besuchen sonntags durchschnittlich einen Gottesdienst. Das sind laut der Statistik der Deutschen Bischofskonferenz fast doppelt so viele wie im Durchschnitt aller Bistümer. Andere Pfarrer würden Marcellus Klaus um solche Zahlen beneiden, der den selbst für katholische Verhältnisse altertümlichen Titel „Bischöflicher Geistlicher Kommissarius für das Eichsfeld“ trägt. Damit ist er der Verantwortliche des Bistums Erfurt für diese Region mit Sitz in Heiligenstadt, dem Zentrum des Eichsfelds. Die Sache mit den gut besuchten Gottesdiensten sieht er jedoch nüchtern: Auch im Eichsfeld seien die Zahlen seit der Corona-Pandemie eingebrochen, das habe ihn erschrocken.
Wie viele AfD-Wähler es unter den Katholiken im Eichsfeld gibt, vermag Klaus nicht zu sagen: „Das sagt keiner, dass er die AfD wählt, man kann es nur aufgrund bestimmter Äußerungen vermuten.“ Aber er rechnet nicht damit, dass es unter den AfD-Wählern signifikant weniger Katholiken gibt. Virulent geworden sei das Thema bisher nicht. „Ich bin heilfroh, dass wir im Kirchenvorstand nicht solche Diskussionen haben“, sagt er. „Nach der Unvereinbarkeitserklärung der Bischöfe haben die Kirchenaustritte zugenommen, nicht stark, aber man hat es gemerkt.“
Auch Demoskopen haben keine gesicherten Erkenntnisse zum Wahlverhalten der Katholiken im Eichsfeld. Für Deutschland insgesamt ermittelte die Forschungsgruppe Wahlen zur Europawahl, dass praktizierende Katholiken deutlich seltener die AfD wählen. Laut Nachwahlbefragung gaben neun Prozent der Katholiken, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, der AfD ihre Stimme; insgesamt kam die Partei auf 15,9 Prozent. Die Unionsparteien kamen in dieser Wählergruppe auf 64 Prozent. Nahezu keinen Unterschied konnten die Demoskopen hingegen bei der Landtagswahl in Hessen im Oktober 2023 feststellen.
Katholiken wählen eher die CDU
Andrea Wolf von der Forschungsgruppe Wahlen sagt trotzdem: „Generell ist es im Osten, aber auch im Westen so, dass Katholiken überdurchschnittlich stark die CDU wählen und AfD, BSW und Die Linke weniger Stimmen als im Durchschnitt erhalten.“ Die Konfession spiele zwar eine geringere Rolle als früher, sagt Wolf. „Dennoch ist es immer noch so, dass es ein christliches Wertebild gibt, das Katholiken stärker mit den Unionsparteien verbindet, für Protestanten gilt das zwar auch, aber weniger stark.“ Deutschlandweit machen die katholischen Kirchgänger allerdings nur noch zwei Prozent der Wähler aus und fallen nicht sonderlich ins Gewicht.
Im Eichsfeld ist das anders: Marion Frant hat ihr Amt den katholischen Wählern zu verdanken. Die CDU-Politikerin und Katholikin ist seit Juli Landrätin des Eichsfelds und hat ihren Arbeitsplatz in der ehemaligen Residenz der Statthalter der Mainzer Bischöfe in Heiligenstadt. Wer Frant fragt, ob ihr Landkreis besonders katholisch sei, bekommt folgende Geschichte zu hören: Im Wahlkampf wollte jemand an einem Sonntag mit ihr ein Unternehmen besuchen. Sie sagte, dass das nicht gehe, weil man hier am Sonntag in die Kirche gehe, und der Termin wurde verschoben. Es sei zwar nicht mehr so wie früher, sagt Frant, auch im Eichsfeld gebe es Kirchenaustritte. Aber die Leute hier seien schon „ein Stück weit stolz auf das Eichsfeld und ihren katholischen Glauben und wissen auch, dass das miteinander zusammenhängt“.
Von der These, dass Katholiken resistenter gegenüber der AfD seien als andere, hält Frant nicht viel: „Ich vermute, dass es in der AfD im Verhältnis gesehen ebenso viele Katholiken gibt.“ Einen Unterschied mache das Katholische jedoch in der politischen Kultur. „Als es deutschlandweit Demonstrationen gegen Rechtsextremismus gab, da haben wir auch in Heiligenstadt demonstriert, aber vorher wurde immer ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert“, erzählt sie. „Die Älteren waren in der Kirche, die Jüngeren warteten davor. So haben wir alle mitgenommen, auch das krawallige Element.“ Das sei etwas anderes, als „wenn die Antifa in Leipzig demonstriert“.
Eine flächendeckende Wahlkampfhilfe für die CDU durch katholische Priester, wie es im Eichsfeld, aber auch in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit noch üblich war, gebe es heute nicht mehr, sagt Frant. „Aber wenn Sie bei einem achtzigsten Geburtstag einem Priester gegenübersitzen, dann sagt der schon seine Meinung, das ist dann schon sehr CDU-lastig.“ Katholischer oder konservativer als im Bundesdurchschnitt sei die CDU hier nicht. Was sie unterscheide, sei ihre regionale Verwurzelung.
Der Kreisverband Eichsfeld habe 1300 Mitglieder und sei damit mit Abstand der größte in Thüringen. Die Partei profitiere heute noch davon, dass zu DDR-Zeiten viele Eichsfelder in die CDU eingetreten seien, weil sie nicht SED-Mitglied werden wollten, aber zugleich auch ihre Ruhe vor dem Staat haben wollten. Für das Eichsfeld machte die SED notgedrungen sogar eine Ausnahme: Hier konnte man Mitglied der CDU und der SED zugleich sein.
Denn die Katholiken im Eichsfeld waren immer schon ein widerspenstiges Völkchen. Das imponierte Benedikt XVI. derart, dass er ihnen im September 2011 einen Besuch abstattete. Dabei lobte der deutsche Papst sie dafür, dass sie „zwei gottlosen Diktaturen“ getrotzt hätten. Noch im März 1933, als die Nationalsozialisten schon an der Macht waren, bekam die katholische Zentrumspartei hier in der Reichstagswahl eine absolute Mehrheit. In der einzigen halbwegs freien Wahl in der sowjetisch besetzten Zone erhielt die CDU 1946 mehr als sechzig Prozent der Stimmen und die SED fuhr eines ihrer schlechtesten Ergebnisse ein. Nach der Wende konnte die CDU mit Ergebnissen von mehr als sechzig Prozent nahtlos daran anknüpfen.
„Hier hat sich unter der Herrschaft der protestantischen Preußen und dem Druck zweier Diktaturen das katholische Milieu besonders stark ausgeprägt“, erklärt der Historiker Christian Stöber, der das Grenzlandmuseum Schifflersgrund leitet. „Das Eichsfeld wird oft mit dem gallischen Dorf von Asterix und Obelix verglichen, und da ist schon sehr viel dran.“ Man dürfe das aber nicht als Rebellentum missverstehen, sagt Stöber: „Es ist mehr ein stiller Widerstand, eine massive Verweigerungshaltung.“
In der Innenstadt trifft das Katholische auf die AfD
Entstanden ist die katholische Enklave durch die Wechselfälle mittelalterlicher Politik: Das Eichsfeld gehörte bis 1802 zum weltlichen Herrschaftsgebiet der Bischöfe von Mainz. Und die sorgten dafür, dass die Eichsfelder nach der Reformation bald wieder katholisch wurden – im Gegensatz zu den angrenzenden Territorien. Stöber sieht die Zukunft des katholischen Milieus hier weniger pessimistisch als viele Kirchenleute. „Schon vor dreißig Jahren wurde der Abgesang auf das katholische Milieu angestimmt, und es ist immer noch da, etwas weniger als früher, aber immer noch stark.“
Dass Heiligenstadt auch heute noch katholischer ist als andere Städte, lässt sich nicht übersehen. Wo ziert schon das Foto einer Palmsonntagsprozession mit Messdienern, Priestern und Christusstatue die städtischen Linienbusse, die durch die Haupteinkaufsstraße fahren? Die AfD und die Katholiken treffen hier aufeinander. Björn Höcke hat in der Stadt sein Wahlkreisbüro – inmitten einer katholischen Infrastruktur von geradezu vatikanischer Dichte.
Im Umkreis weniger Hundert Meter um das Büro des Spitzenkandidaten der Thüringer AfD ragen die Kirchtürme von Sankt Marien und Sankt Aegidien empor, dazu kommt eine katholische Berufsschule, ein katholisches Gymnasium, ein Bildungshaus des Bistums Erfurt, eine Statue des heiligen Johannes Nepomuk und die Ordenszentrale der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel. Die Ordensfrauen machen unmissverständlich klar, was sie von Höcke und der AfD halten: „Gegen Extremismus. Miteinander auf Augenhöhe. Gelebte Vielfalt. Damit Leben gelingt“, steht auf einem Plakat an der von ihnen geführten Berufsschule.
Das Schaufenster von Höckes Büro ist mit AfD-Blau ausstaffiert. Nicht weit davon entfernt bestimmt an diesem Nachmittag ein anderes, dunkleres Blau die Szenerie, ein Blau das seit jeher für den Himmel und die Unbeflecktheit steht: der Mantel der Gottesmutter. Eine kleine Gruppe hat eine kniehohe Marienstatue vor einem Hochbeet aufgestellt. Dazu erklingt der Sound, der das Eichsfeld jahrhundertelang geprägt hat: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Das Ave Maria.
Höcke, der das Eichsfeld vor der Landtagswahl 2019 „sturmreif schießen“ wollte, war dieses katholische Pflaster offenbar nicht ganz geheuer. Diesen März teilte er mit, dass er nicht mehr im Wahlkreis Eichsfeld I antreten werde, wo er zu Hause ist, sondern im Kreis Greiz II. Hier steht seine Partei deutlich besser da. In der Landtagswahl 2019 hatte die AfD im Eichsfeld 21 Prozent der Wahlkreisstimmen erhalten, die CDU 49.
Auf die Frage, warum es die AfD im Eichsfeld so schwer habe, antwortet die AfD in Heiligenstadt der F.A.S.: „Auf dem Eichsfeld werden Wahlergebnisse in der Regel nicht durch rationale eigene Entscheidungen getroffen, sondern traditionell. Weil Vater, Großvater u.s.w. schon immer CDU gewählt haben und man sich sonntags in der Kirche in einer verschworenen Gemeinschaft wähnt, bleibt das auch so.“ Damit rechnen auch die Katholiken im Eichsfeld. Aber der Rest Thüringens? Dafür würden sie ihre Hand nicht ins Weihwasser legen. Eine Kirchgängerin sagt: „Da hilft mein Gottvertrauen nicht mehr.“
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