„Geflüchtete werden nicht integriert, sondern verwaltet“

Herr Hinke, Sie sind 28 Jahre alt und Mobilitätsplaner im öffentlichen Dienst. In Ihrer Bewerbung für die Debattenaktion „Deutschland spricht“ schreiben Sie: „Viele hausgemachte Probleme können durch KI gelöst werden.“ Wie meinen Sie das?

Ich sehe in meinem beruflichen Alltag viele Bereiche, die mit KI effizienter gestaltet werden könnten. Es gibt zum Beispiel sogenannte „On-Demand-Shuttle“, die per App gebucht werden können. Wenn man diese Fahrzeuge in ein paar Jahren autonom fahren lassen kann, wird der Betrieb wesentlich wirtschaftlicher. So lässt sich Mobilität günstiger und damit auch zugänglicher gestalten. Natürlich ist KI kein Allheilbringer. Aber es gibt Bereiche, in denen wir sie sinnvoll einsetzen können. Ich finde auch, dass Kinder und Jugendliche bereits in der Schule einen Umgang mit Künstlicher Intelligenz lernen sollten.

Thüringen und Sachsen haben bereits gewählt. Die Wahl in Brandenburg steht bevor. Wenn Sie dort wählen könnten, welches Thema würde Ihre Stimmabgabe am meisten beeinflussen?

Für mich stehen zwei Fragen im Vordergrund: Wie schafft man gesellschaftlichen Zusammenhalt, und wie kann Politik ein positives Bild von der Zukunft vermitteln? Leider stellen viele Parteien diese Vision nicht mehr in den Vordergrund. Es gibt Kleinparteien, wie zum Beispiel Volt, die junge Menschen bei der Europawahl wählten, weil die Partei eine Art hoffnungsvolles Bild vermittelt. In den großen Parteien wird Politik hingegen viel zu oft über Angst gestaltet. Die Frage ist aber: Wo soll Deutschland in zehn oder fünfzehn Jahren stehen? Daraus müssten Parteien Ziele ableiten. Solche, an denen auch Menschen in ihrem Alltag mitwirken könnten. Jedes Unternehmen hat heute ein solches Ziel. In Deutschland wurschtelt stattdessen jeder vor sich hin. Da verpassen wir eine große Chance für die Demokratie.

In Thüringen ist die AfD stärkste Kraft, in Sachsen liegt die CDU knapp vor der AfD. Eine Koalitionsbildung ist in Thüringen nur mit Beteiligung des BSW oder der AfD möglich. Auf welchen Ausgang hoffen Sie?

Ich habe die Hoffnung, dass eine Mehrheitsbildung ohne die radikalen Kräfte möglich ist, also ohne AfD. Beim BSW stellt sich die Frage, ob diese Partei es schafft, tatsächlich sinnvoll zur Regierungsarbeit beizutragen, oder ob sie am Ende bloß die Mehrheitsbeschafferin für eine demokratische Koalition ist. Generell ist das BSW für mich noch eine große Blackbox. Ich weiß nicht wirklich, was man von dieser Partei erwarten kann. Aber es wäre aus meiner Perspektive vertretbar, Sahra Wagenknecht an einer Regierung zu beteiligen. Eine andere Chance für eine mehrheitsfähige Koalition ohne AfD gibt es nicht.

„In Westdeutschland wird immer noch das Narrativ vom „Ossi“ aufrechterhalten“, sagt Simon Hinke.
„In Westdeutschland wird immer noch das Narrativ vom „Ossi“ aufrechterhalten“, sagt Simon Hinke.Simon Koy

Hatten Sie Begegnungen mit Ostdeutschen? Wie war das? Was hat Sie beeindruckt?

Mein Vater ist in Chemnitz geboren und mit meinen Großeltern noch vor dem Mauerbau in den Westen geflohen. Dementsprechend interessiere ich mich sehr für ostdeutsche Perspektiven. Aber in Westdeutschland wird immer noch das Narrativ vom „Ossi“ aufrechterhalten. Die Perspektiven von Menschen in Ostdeutschland finden in der Bundesrepublik bis heute kaum statt. Es wird immer nur über den braunen Osten gesprochen. Über Ostdeutsche, die zu dumm sind für Demokratie und nur deswegen Nazis wählen. Dabei gehen uns Perspektiven verloren, von denen alle lernen könnten. Zum Beispiel gibt es „im Osten“ viel mehr parteilose Bürgermeister. Parteipolitik spielt insgesamt eine wesentlich geringere Rolle. Daraus können sich auch Chancen für einen Ort ergeben.

Haben Sie Sorge, Ihre Meinung öffentlich zu äußern?

Das ist eine schwierige Frage. Grundsätzlich kann in Deutschland jeder seine Meinung frei äußern, und solange ihr Inhalt nicht gegen geltendes Recht verstößt, wird sie auch von niemandem juristisch verfolgt. Trotzdem nehme ich wahr, wie sich Diskursräume in manchen Teilen der Gesellschaft verengen. Das passiert eigentlich immer dann – egal ob links oder rechts –, wenn eine Gruppe denkt, Meinungshoheit über ein Thema zu haben. Dabei ist in den vergangenen Jahren die Erzählung entstanden, nur absolute Fachexperten dürften sich zu gewissen Themen äußern und hätten einen legitimen Standpunkt, beispielsweise bei einer Impfpflicht gegen Corona. Aber so funktioniert Demokratie nicht. Stattdessen braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, in dem jede Person das Recht hat, ihre Meinung zu äußern, die letztlich zur politischen Willensbildung führt. Diese Meinung muss mir nicht gefallen. Aber sie muss stattfinden dürfen, solange sie nicht verfassungsfeindlich ist.

Wären Sie im Kriegsfall bereit, für Deutschland zu kämpfen?

Wenn Kriegsfall bedeutet, ich müsste im Ausland für Deutschland kämpfen, würde ich definitiv Nein sagen. Wenn Kriegsfall bedeutet, die europäische Architektur ist so weit zusammengefallen, dass sich europäische Partner untereinander angreifen, dann kann ich mir vorstellen, etwas beizutragen. Nicht an vorderster Front mit einer Waffe. Aber ich habe als Geograph andere Qualifikationen, mit denen ich im Hintergrund arbeiten könnte. Ich könnte etwa Satellitenbilder auswerten.

Wie erleben Sie die Flüchtlingsthematik in Ihrem persönlichen Alltag?

In meinem persönlichen Leben habe ich wenig mit Geflüchteten zu tun. Ich finde es aber grundsätzlich richtig, Menschen in Deutschland aufzunehmen, die hier Schutz suchen. Und ich finde diese Debatte um die Migrationspolitik, die nach dem Attentat in Solingen geführt wird, absolut absurd. In meinen Augen gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen Migration und innerer Sicherheit. Ich nehme aber wahr, dass die Kommunen auf dem Zahnfleisch gehen. Sie sind schlicht überlastet. Deshalb werden Geflüchtete bei uns mittlerweile kaum noch integriert, sondern nur noch verwaltet. Für sie gibt es kaum Perspektiven. Und dann radikalisieren sie sich, so wie jetzt in Solingen. Der Großteil der Menschen, die zu uns kommen – egal, aus welchem Land –, kann aber positive Dinge beitragen. Es wird jedoch schwierig, wenn die Integration aus Mangel an Kapazitäten nicht erfolgt.
 

Simon Hinke ist 28 Jahre alt und Geograph. Er wohnt in München. In der Interviewreihe „Sieben Fragen, sieben Antworten“ beantworten Teilnehmer der Leserdebattenaktion „Deutschland spricht“ Fragen zu den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern.

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