„Shit! Das ist voll schief gegangen!“

Am Landgericht Braunschweig hat der Prozess wegen Betrugs gegen Ex-VW-Chef Martin Winterkorn begonnen. Der frühere Sonnenkönig von Wolfsburg weist alle Vorwürfe zurück. Doch die Staatsanwaltschaft sitzt auf einem Beweis-Schatz – und zeichnet den Komplott minutiös nach.

Den ersten Auftritt legt er noch vor Prozessbeginn hin. Fotografen und Journalisten bauen sich im ersten Stock des Landgerichts ein paar Meter entfernt vor einer Glastür auf, durch die er gleich schreiten soll. Zwei Personenschützer der Polizei sondieren die Lage. Alles sehr ernst. Dann geht die Tür auf, und Martin Winterkorn trippelt den Gang entlang, begleitet von seinen vier Anwälten, die sich in einer Reihe neben ihm aufstellen. Was hat er nun zu sagen, der ehemalige Chef von Volkswagen?

„Es geht mir gut, ich weise die Vorwürfe zurück“, sagt der 77-Jährige, und ringt sich ein Lächeln ab. Doch der CEO-Glanz ist verflogen, Winterkorn humpelt seit mehreren Operationen am Knie, seine Wangen sind eingefallen, das Gesicht kalkweiß. Keine Spur mehr von der kraftstrotzenden Vitalität, die ihn auszeichnete, verflogen die Macher-Ausstrahlung. Heute steht ein gealterter Mann vor der Menge. Der gibt noch ein paar Ein-Wort-Antworten, sagt, dass er heute nichts sagen wird, und geht wieder durch die Tür.

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In weiteren 89 Verhandlungstagen will die 6. Strafkammer des Landgerichts Braunschweig unter dem Vorsitz von Richter Johannes Mühe herausfinden, inwieweit Winterkorn in seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender von Volkswagen von den Manipulationen der Abgasanlagen von Diesel-Motoren wusste – oder ob er sie sogar mitgetragen oder angestoßen hatte.

Die Staatsanwaltschaft hat drei verschiedene Anklagen geschrieben, die die Kammer in einem Verfahren zusammen gefasst hat: In der ersten wirft die Behörde dem Angeklagten vor, von der Betrugssoftware gewusst zu haben. Es dauert etwas über 90 Minuten, bis der Staatsanwalt das Dokument verlesen hat. Und es wird klar, dass die Ermittler Zeugenaussagen, E-Mails, Schriftverkehr und SMS auswerten konnten – ein wahrer Beweis-Schatz. Minutiös zeichnet die Staatsanwaltschaft das Komplott nach, das führende Manager des Konzerns geschmiedet haben sollen, um die strengen US-Abgasgrenzwerte, insbesondere bei den Stickoxidwerten-Werten (NOX), mittels einer Software-Manipulation einzuhalten.

Winterkorn hält sich für unschuldig

Dann habe der frühere CEO vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, der sich mit dem Fall befasste, 2017 die Unwahrheit gesagt. Als Zeuge sagte er aus, dass er „sicher erst im September 2015, sicher nicht vor September 2015 davon erfahren“ habe, heißt es in der zweiten Anklage. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass sie mit Gesprächs- und Sitzungsprotokollen das Gegenteil beweisen kann.

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Laut der dritten Anklage soll Winterkorn es versäumt haben, die Börse auf das Problem mit der Software aufmerksam zu machen – allein in den USA musste VW schließlich mehr als 30 Milliarden Dollar an Strafen und Entschädigungen zahlen. Als die kalifornische Luftreinhaltungskommission CARB, die die Grenzwerte festsetzt, im September 2015 eine Presseinformation zum Skandal herausgab, rauschte der Aktienkurs des Unternehmens ungebremst nach unten.

Winterkorn aber hält sich für unschuldig. Sein Lebenswerk stellt der Staatsanwalt allerdings gleich in den ersten Sätzen bloß: Der Angeklagte habe vom 25. Mai 2014 bis 22. September 2015 als „Mitglied einer Bande zur fortgesetzten Begehung von Straftaten“ gewirkt, die eine unzulässige Software zur Unterdrückung korrekter Schadstoffmessungen bei Diesel-Motoren entwickelt habe. Mehr als neun Millionen Autos der Firmen Skoda, VW und Seat seien „verbotswidrig zum Straßenverkehr zugelassen und zu Unrecht von der Kfz-Steuer befreit worden“, so der Staatsanwalt. Komplizen statt Kollegen, Bande statt Führungsmannschaft. Es klingt wie ein Fall aus der Clan-Kriminalität.

Im Folgenden entwirft die Anklage das Bild eines Unternehmens, das sich 2007 ein offenbar unerreichbares Ziel gesetzt hatte und dieses um jeden Preis erreichen wollte. Winterkorn wollte 2007, gerade frisch im Amt, seine Diesel-Technik am US-Markt durchsetzen. Die Amerikaner stehen dem Traktor-Treibstoff kritisch gegenüber, auch die hohen Grenzwerte für NOX setzen hohe Hürden für so eine Aufgabe.

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Unterhalb der Vorstandsebene besprachen sich technische Direktoren, Abteilungsleiter, Fach-Ingenieure für Abgastechnik, wie sie das Problem lösen könnten. Ein technisch aufwändiger Motor wäre teuer geworden und hätte sich schlechter verkauft, fasst die Staatsanwaltschaft das Ergebnis einer Besprechung zusammen. Also musste es anders gehen: In Motorsteuergeräten planten die VW-Leute eine verdeckte Softwarefunktion einzuspielen, die erkannte, ob der Wagen sich im Straßenverkehr befand oder bei einem behördlichen Emissionstest.

Bemerkte die sogenannte „Akustikfunktion“ oder das auch „defeat device“ genannte Programm, dass gerade gemessen werden sollte, manipulierte die Abgas-App die Elektronik so, dass der Stickstoffoxid-Ausstoß stets unter dem gesetzlichen Grenzwert blieb. Im Normalbetrieb aber überstieg der Ausstoß die Grenzwerte um das 35-fache. Den maßgeblichen Köpfen war klar, dass die Fahrzeuge weder in den USA noch in der EU zugelassen werden könnten. Aber sie machten weiter. „Lasst Euch nicht erwischen“, mahnte ein Vorgesetzter die Gruppe, die der Staatsanwaltschaft zufolge zur Bande wurde.

Ab und zu haderte wohl doch ein Kollege mit dem Betrug. Einmal kam es zum Eklat, als der Ingenieur D. sich Nase an Nase mit einem Kollegen anschrie. D. wollte das Projekt stoppen, doch sein Vorgesetzter entschied, dass das „Projekt nicht angehalten“ werde, heißt es in der Anklage. Und so habe D. weitergemacht, um „das gute Gehalt nicht zu gefährden“.

VW genoss einen hervorragenden Ruf

Die Autos rollten aus der Fabrik, fuhren in die Frachter und kamen in Amerika an. Dort ließ sich Volkswagen bejubeln, trompetete, dass die neuen Autos 90 Prozent weniger Stickstoffoxide ausstoßen würden und heimste 2008 die Auszeichnung „Green Car of the Year“ ein. In den kommenden Jahren verkaufte das Unternehmen allein in den USA 500.000 manipulierte Autos. Es gibt ein Foto eines VW-Managers, der mit dem damaligen amerikanischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger posiert mit der Bildunterschrift: „Und jetzt absolut sauber ins Ziel fahren, bitte!“

Doch die Sache kam heraus. Eine Universität unternahm 2014 eigene Probemessungen auf dem Prüfstand und im normalen Straßenverkehr. Schnell entdeckten die Tester die auffälligen Unterschiede, konnten aber keine Erklärung finden. Auch die CARB-Leute rätselten. Das Verhältnis der Behörde zu VW galt als vertrauensvoll, die Autobauer hatten einen hervorragenden Ruf bei den Kaliforniern, so der Staatsanwalt.

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Also fragten die Amerikaner bei Volkswagen nach. In Wolfsburg waren sie alarmiert, hielt die CARB hin, antwortete nur zögerlich und nicht ausführlich genug. Das wiederum provozierte Nachfragen, und allmählich keimte in Kalifornien der Verdacht, dass bei der vermeintlichen deutschen Wertarbeit etwas nicht stimmt.

Die Manager diskutierten: Sollten sie alles zugeben und Milliarden-Strafen in Kauf nehmen? Oder weiter auf Zeit spielen? Scheibchenweise warfen sie der CARB ein paar Informationen zu, bis der Ingenieur D. in einer Besprechung forderte, alles offenzulegen. Doch sein Vorgesetzter untersagte es ihm.

Daraufhin befand sich der VW-Mann in einer Situation zwischen „Pest und Cholera“, wie der Staatsanwalt sagt: Entweder er sagt nichts und hält am Betrug fest, oder er beichtet und gilt fortan als Nestbeschmutzer. Bei einer Besprechung mit den Amerikanern am 19. August 2015 machte D. dann Angaben zur Funktionsweise der Umschaltlogik der CARB gegenüber und ließ die Manipulation auffliegen. Sein Vorgesetzter sagte zu Mitarbeitern: „Shit! Das ist voll schief gegangen!“

Die in die USA gelieferten Autos mussten still gelegt werden, insgesamt fuhren acht Millionen Autos über die Straßen, die nie hätten zugelassen werden dürfen.

An den nächsten Verhandlungstagen dürfte um die Frage gehen, was Winterkorn wann wusste. Seine Anwälte haben angekündigt, am Mittwoch eine Erwiderung auf die Anklage zu verlesen („opening statement“), auch der Angeklagte selbst will sich einlassen. Versuche, das Verfahren im Wege der Einstellung gegen eine Millionen-Geldbuße zu beerdigen, scheiterten in den vergangenen Jahren. Die Staatsanwaltschaft möchte den Prozess „streitig“ führen und sieht aufgrund der Schwere der Vorwürfe kaum Spielraum für ein solches Vorgehen.

Von Winterkorn selbst ist der Anklage zufolge während des Krisen-Managements immerhin ein Kommentar überliefert. Als ihm ein Mitarbeiter 2015 mitteilte, dass die neuen Grenzwerte für das Modelljahr 2016 nicht eingehalten werden könnten und es keine Lösung für das Problem gebe, sagte der CEO: „Scheiße“.

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