„Haben uns von Putin wie der Ochse am Nasenring herumführen lassen“, beklagt Wolfgang Ischinger

Der frühere Diplomat Wolfgang Ischinger kritisiert bei „Maybrit Illner“, dass in Deutschland nicht verstanden werde, dass die Unterstützung für die Ukraine keine „Benefizveranstaltung“ sei. Bei der Reichweitenbeschränkung westlicher Waffen gegen Russland gelte es, „den Spieß umzudrehen“.

Boris Pistorius schichtet um. Da Haushaltsmittel für die dringend erforderliche Unterstützung der Ukraine fehlen, will das Verteidigungsministerium knapp 400 Millionen Euro für ein Waffenpaket freimachen. Eine weitere Milliarde stammt von internationalen Partnern. Damit will die Bundesregierung unter anderem ein Munitionspaket, 20 Marder-Schützenpanzer sowie Aufklärungs- und Angriffsdrohnen finanzieren, die möglichst noch in diesem Jahr „auf dem Gefechtsfeld zur Wirkung gebracht werden“ sollen, wie der Spiegel am Donnerstag aus einer internen Vorlage zitierte.

Unterdessen setzt Wolodymyr Selenskyj seine Kursk-Offensive fort und arbeitet weiter an einem vierphasigen „Siegesplan“, den er in Kürze US-Präsident Joe Biden vorstellen möchte. „Ukraine will Sieg und Frieden – was will der Westen?“, fragte Maybrit Illner dazu die FDP-Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann, den Linken-Politiker Gregor Gysi, den Politikwissenschaftler Frank Sauer, die Journalistin Sabine Adler, den früheren Diplomaten Wolfgang Ischinger sowie Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten.

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„Ich habe diesen Plan, werde ihn aber nicht hier vorstellen“, habe ihm Selenskyj wenige Tage zuvor bei einem Treffen mitgeteilt, schilderte Wolfgang Ischinger. Zunächst wolle der ukrainische Präsident das Petitum Joe Biden und – falls möglich – den Präsidentschaftskandidaten Kamala Harris und Donald Trump persönlich vorstellen.

Der frühere Diplomat zeigte sich jedoch „relativ sicher“, dass Teil des „Siegesplan“ sein würde, die Reichtweitenbeschränkung der Waffensysteme aufzuheben, um das asymmetrische Verhältnis im Konflikt mit Russland auszugleichen. Seinem Eindruck nach sei Selenskyjs Erwartung „riesengroß“, dass sein US-Besuch der Ukraine „zu einem wesentlichen Schritt nach vorne“ verhelfen werde.

Dass er damit Erfolg bei Joe Biden haben könnte, befand Sabine Adler. Es bestehe die Hoffnung, dass sich der US-Präsident „ein Denkmal setzen“ und „mit einem Paukenschlag die Bühne verlassen“ möchte. Das mitunter herrschende Misstrauen in Bezug auf Langstreckenwaffen finde sie „ein bisschen merkwürdig“, sagte die Journalistin. „Die Ukraine hat mit nichts bislang bewiesen, dass sie die Waffen auf zivile Ziele richtet.“

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Selenskyj wolle nach etwa 1000 Tagen Krieg „in die Offensive kommen“, statt nur darauf zu warten, „bis irgendeiner agiert“, ergänzte Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Womöglich wolle er Putin unter Druck setzen, indem er militärische Ziele in Russland ins Visier nimmt, falls dieser seine Angriffe nicht einstelle. „Und das muss dann Putin auch vor seiner eigenen Bevölkerung rechtfertigen“, prophezeite die FDP-Politikerin.

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Bei der russischen Invasion gehe es vor allem um die Dominanz in Europa, erklärte der aus einem Bunker in Kiew zugeschaltete Mychajlo Podoljak. Russland habe weder seine anfänglichen Kriegsziele erreicht noch werde es seine Expansion einstellen. Verhandlungen geben dem angreifenden Staat lediglich die Chance, an seinen Fehlern zu arbeiten und einige Zeit, nachdem der Konflikt eingefroren sein werde, seine Expansion fortzusetzen. Es werde nur dann möglich sein, den Krieg zu beenden, wenn die Ukraine ihn ins russische Territorium trage, so wie es im Zuge der Kursk-Offensive oder den Angriffen auf Lager in Tula geschehe.

„Woher kommt denn die Illusion, wenn der Krieg nach Russland geht, dass die sich dann gegen ihre Führung stellen?“, fragte Gregor Gysi energisch. „Vielleicht passiert genau das Gegenteil.“ Der Linken-Politiker unterstellte der Runde, vor allem an der Eskalation statt einer Deeskalation zu arbeiten.

Ziel der deutschen Ukraine-Hilfen in „breiten Schichten“ der Bevölkerung nicht angekommen

Auch die jüngste Zusage der Bundesregierung über ein Waffenpaket rügte er. „Warum können wir nicht mal ernsthaft über einen Waffenstillstand und über Friedensverhandlungen diskutieren?“ Nach seiner Lesart wären solche auch im Interesse der Ukraine, die unter menschlichen Verlusten und Zerstörungen leide.

In Deutschland sei es „bisher nicht hinreichend verstanden“ worden, dass es „um uns“ gehe, statt um eine „Benefizveranstaltung“ für die Ukraine, betonte Ischinger, wobei er Gysi explizit mit einschloss. Es sorge ihn, dass dies in „breiten Schichten“ der Bevölkerung nicht angekommen sei. „Wir haben uns in diesen letzten zweieinhalb Jahren ständig wie der Ochse am Nasenring herumführen lassen von Putin“, beanstandete der langjährige Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz. Nun gelte es, „den Spieß umzudrehen“, indem der russischen Seite verdeutlicht werde, dass ihre Abschussrampen und Flughäfen attackiert werden, sofern sie weiterhin davon aus zivile Objekte beschieße.

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Dem schloss sich auch Frank Sauer an. Es sei nötig, die „passive und reaktive Politik“ zu beenden und Putin unter Zugzwang zu setzen, indem die Reichweitenbeschränkungen fallengelassen werde. „Die Ukraine schießt auf militärische Hardware, Putin schießt auf Zivilisten und kritische Infrastruktur“, fasste er noch einmal zusammen. Um dem Staat eine Chance zu geben, benötige er Waffen, um sich zu verteidigen. Nur auf Frieden zu hoffen, helfe dagegen nichts, erklärte der Sicherheitsexperte. Und doch musste er sich und dem Publikum eingestehen, einem offenen Ausgang. „Weiß ich, dass das so aufgeht? Nein, aber das ist eben das Risiko, was wir eingehen müssen.“

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