Deutschland bei KI so viel weiter als angenommen

Der Produktchef von ChatGPT sieht die Bundesrepublik unter den drei führenden Ländern. Vizekanzler Robert Habeck und Digitalisierungsminister Volker Wissing fordern einfachere Regeln, um Innovationen in dem Bereich zu fördern – Grundzüge für eine entsprechende Behörde stehen bereits.

Der Standort Deutschland ist nach Ansicht von Experten im Wettlauf um Entwicklungen der künstlichen Intelligenz (KI) international besser aufgestellt, als es im Land selbst wahrgenommen wird. „Deutschland gehört zu den drei größten ChatGPT-Märkten, wir haben also viele Nutzer hier“, sagt Nicholas Turley, ChatGPT-Produktchef, WELT AM SONNTAG.

„Ich mag voreingenommen sein“, so Turley, der selbst Deutscher ist, „aber ich glaube wirklich, dass Deutschland hier erfolgreich mitspielt“. Die Industriestaaten-Organisation OECD wiederum stellt fest, dass die Bundesrepublik bei der Grundlagenforschung in diesem Bereich Spitzenklasse ist. Mit 17 Prozent aller Patentanmeldungen rangiert sie auf dem zweiten Platz hinter den USA und vor China.

Turley weist in seiner Beurteilung darauf hin, dass er nicht nach einzelnen, sehr großen Start-ups schaue, sondern versuche, die Gesamtsituation zu beurteilen. Er sehe einfach sehr viel Schwung hierzulande, sagt der Manager. „Ich wäre nicht überrascht, wenn eine nächste Generation von KI-Start-ups in Berlin geboren würde.“

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Die Wahrnehmung in Deutschland selbst ist dagegen oft eine andere. Kritiker weisen darauf hin, dass das Land wegen zu geringer Investitionen in den Bereich sowie einer zu harten Regulierung durch die EU und Datenschützer bei dieser in Zukunft vermutlich existenziellen Technologie zurückzufallen droht. Gerade in konkreten Anwendungsbereichen scheinen Amerikaner und Chinesen weit enteilt.

Noch ist die Strecke daher lang für die Bundesrepublik, um als eigenständige und konkurrenzfähige globale KI-Macht wahrgenommen zu werden. „Es hapert oft beim Transfer in die Praxis“, stellt Digitalisierungsminister Volker Wissing (FDP) fest.

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Das liege auch daran, dass Risikokapital hierzulande knapper sei als etwa in den USA. „Das wollen wir ändern, indem wir steuerliche Anreize für private Investments erhöhen und einen Sekundärmarkt für Start-up-Anteile schaffen“, sagt Wissing. Zugleich fordert er von der EU ein Moratorium für neue Regularien im Digitalen, denn viele komplizierte Regeln drohten Innovationen zu ersticken.

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Auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) will, dass Deutschland seine Kraft auf dem KI-Feld voll entfalten kann. „Ein wichtiger Faktor dafür ist: Wir brauchen einfache Regeln, die ermöglichen statt erschweren“, sagt er WELT AM SONNTAG. Das sei seine Marschroute bei der Umsetzung der europäischen KI-Verordnung.

Wie aus einem Papier hervorgeht, das dieser Zeitung vorliegt, haben Bundeswirtschafts- und Bundesjustizministerium jetzt gemeinsam die Grundzüge für die KI-Behörden- und Aufsichtsstruktur erarbeitet – wie sie eine von der EU beschlossene Verordnung vorsieht.

Zentral für die Bundesregierung seien folgende Maßgaben, heißt es in dem Papier: „Schaffung schlanker Strukturen aus Sicht der Marktakteure.“ Die Vermeidung von Doppelstrukturen, eine effiziente Verzahnung der Aufsichtsstruktur mit anderen EU-Rechtsakten im Digitalbereich sowie die mögliche Bündelung von Aufsichtsaufgaben, auch um eine möglichst einheitliche Auslegung der europäischen KI-Verordnung sicherzustellen.

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Die Bundesnetzagentur werde die dafür zuständige Behörde. „Sie soll ergänzend zu den bestehenden Strukturen zentrale Koordinierungsstelle und KI-Kompetenzzentrum werden“, heißt es in dem Schreiben weiter. Ein Gesetzentwurf soll jetzt erarbeitet werden.

Aus der EU kommen allerdings auch Warnungen vor einem verengten Blick der Bundesregierung nur auf das eigene Land. „Sechs Prozent der globalen KI-Investitionen finden in der EU statt. Schon die EU als Ganzes hat Schwierigkeiten, den Anschluss nicht zu verlieren. Deutschland wird es allein nicht schaffen“, fürchtet der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber. „Wir brauchen eine wirkliche europäische Innovationsunion.“

Die EU benötige europäische KI-Leitprojekte, etwa bei der Mobilität der Zukunft oder beim Kampf gegen Krebs. „Aber auch beim Aufbau des Binnenmarkts für Verteidigung wollen wir eine Innovationsagentur analog der US-DARPA, die unter anderem KI voranbringt.“ Weber warnt vor einer „Wild-West-Welt“, wo alles erlaubt sei, was Geld bringe: „Wir setzen auf unseren European Way of Life als Lebensmodell, dem auch die KI dienen muss.“

Stefan Beutelsbacher ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet über die Wirtschafts-, Handels- und Klimapolitik der EU.

Jan Dams ist Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen von WELT und WELT am Sonntag.

Benedikt Fuest ist Wirtschaftskorrespondent für Innovation, Netzwelt und IT.

Tobias Kaiser ist Korrespondent für europäische Wirtschaft. Er verfolgt andere europäische Volkswirtschaften, schreibt über den Standortwettbewerb auf dem Kontinent und berichtet vor Ort über Entwicklungen und deren Folgen für Deutschland.

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