Die Grünen simulieren Aufbruch und Neustart – und sparen die wichtigsten Themen wieder aus

Verlorene Wahlen, Aus- und Rücktritte: Die Stimmung bei den Grünen ist mau. In Berlin versuchte man sich auf einem Kongress gegenseitig aufzumuntern. Die Themen Migration und Sicherheit störten da nur – und kamen entsprechend kaum vor.

Wir zählen Tag Nummer sechs nach dem grünen Erdbeben. Am vergangenen Mittwoch trat der gesamte Bundesvorstand zurück. Die Stimmung in der Partei krachte auf dem Nullpunkt. Parteichef Nouripour hatte die jüngsten katastrophalen Wahlergebnisse als „Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade“ bezeichnet.

Nun überschlagen sich in der Partei die Ereignisse. Vergangenen Freitag lichtete sich der Nebel um das neue Personal, dass auf dem Parteitag Mitte November in Wiesbaden die Nachfolge von Omid Nouripour und Ricarda Lang antreten soll: Die Reala Franziska Brantner und Felix Banasak vom linken Flügel sollen die Grünen als Duo anführen. Den Bundestagswahlkampf soll der Vizechef der Fraktion, Andreas Audretsch, managen, ebenfalls ein Parteilinker.

Ob das wirklich ein Neustart nach dem Geschmack des mutmaßlichen Kanzlerkandidaten Robert Habeck ist? Man müsse dem linken Flügel entgegenkommen, dort habe nach dem kollektiven Rücktritt des Bundesvorstands eine „gefährliche Stimmung“ geherrscht. In der Bundestagsfraktion haben die Parteilinken eine Mehrheit, vielen gehen die Kompromisse in der Ampel-Regierung zu weit. Ob die Koalition diesen Herbst übersteht, ist ohnehin unklar. Die Grünen liegen in Wartestellung, über das Ende der Regierung entscheiden nicht sie, sondern letztlich die FDP – beziehungsweise deren Parteichef Christian Lindner.

Simulation von Aufbruch und Neustart

In dieser unklaren Lage, die die Grünen im Grunde zu Passivität verdammt, soll Aufbruch und Neustart wenigstens simuliert werden. Am Montag veranstaltete die Bundestagsfraktion deshalb einen Kongress. Unter dem Motto „Mut macht Zukunft“ versammelten sich rund 1000 Mitglieder und Sympathisanten im ehemaligen DDR-Großraumkino „Kosmos“ an der Karl-Marx-Allee. Die Veranstaltung wurde monatelang vorbereitet – nun lag ihr Zweck vor allem darin, die depressive Stimmung, die die Mitglieder nach der Serie von Wahlschlappen ergriffen hatte, wieder aufzuhellen.

Es gehe darum, „ein positives, optimistisches Bild von einer besseren Zukunft“ für Deutschland zu zeichnen, sagte Fraktionschefin Britta Haßelmann zum Auftakt der Veranstaltung. „Wir vertreten einen zukunftsoptimistischen Ansatz“, sekundierte Co-Fraktionschefin Katharina Dröge. Sie forderte, das Thema Klimaschutz wieder „in den Mittelpunkt der Politik“ zu stellen. Dies sei kein Selbstzweck, sondern vor allem „der Schutz unserer Heimat“, betonte Dröge mit Blick auf Hochwassergefahren und Hitzewellen.

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Klimaschutz müsse zugleich bedeuten, „unser Leben besser zu machen“, indem beispielsweise „die Luft besser“ und „der Verkehr leiser“ werde, sagte Dröge. Dies heiße aber auch, praktische Fragen vieler Menschen zu beantworten, nach bezahlbaren Mieten ebenso wie nach dem Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel.

Kein Panel zum Thema Migration

Auf dem Zukunftskongress wurde auf mehreren Panels mit prominenter grüner Beteiligung so ziemlich alles debattiert, was der grüne Kosmos gerade zu bieten hat: Klima, Europa, Wirtschaft, Demokratie, Wohnen, Bildung, Sozales und Finanzen, Jugend, Familie und Gesundheit. Ein Panel zum Thema „Migration“ gab es freilich nicht. Das Thema befinde sich intern noch „in der Umsetzung“, hieß es in Fraktionskreisen zur Begründung – was immer das bedeuten mag.

Dennoch war der Komplex Migration und Sicherheit zumindest auf den Fluren des „Kosmos“ ein Thema. Das hatte mit einem Grünen zu tun, der auf ein Podium gar nicht geladen war: Cem Özdemir, Ex-Parteichef und grüner Landwirtschaftsminister. Der hatte im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘“ am Freitag unter dem Titel „Sprache, Arbeit und Gesetzestreue“ einen langen Essay veröffentlicht, der sich im Kern darum drehte, wie es in Deutschland in der Einwanderungspolitik weitergehen soll. Darin räumte er mit lieb gewordenen grünen Gewissheiten auf. Man müsse die „Realitäten sehen und benennen“, und „uns eingestehen, dass wir es uns in der Echokammer der eigenen Selbstvergewisserung viel zu gemütlich eingerichtet haben – links wie rechts“.

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Er sei überzeugt, dass es der AfD am meisten nütze, wenn „real existierende Probleme, die diese Rechtsextremisten politisch ausbeuten wollen, von uns aus Angst und falscher Rücksichtnahme gar nicht erst thematisiert werden“. Gerade das liberal-progressive Lager sei gefordert, notwendige Änderungen an der Asyl- und Migrationspraxis vorzunehmen. Die derzeitige Situation führe zu „massiven gesellschaftlichen Verwerfungen“.

Özdemirs differenziertem Text erging es dann so, wie vielen klugen Äußerungen in den Zeiten digitaler Polarisierung: Je länger der Essay in der Welt war, desto kürzer und dümmer wurde er in den sozialen Medien gemacht. Am Ende blieb zumindest bei manchen Kritikastern nur hängen Özdemir, Sohn türkischer Einwanderer, hätte irgendwas gegen Flüchtlinge. Flugs wurde auf X von ganz links die Rassismuskeule geschwungen. Beim linken Flügel der Grünen war man irritiert.

Offenbar las kaum jemand Özdemirs Text im Original

Die Mühe, den Text in seiner Originalfassung zu lesen, wie es etwa der Soziologe Armin Nassehi auf X empfohlen hatte, hatten sich auch in der grünen Bundestagsfraktion offenbar nur wenige gemacht. Wenn überhaupt, bezog man sich intern auf reichlich zugespitzte Zusammenfassungen. Özdemir hatte in dem Text in der Einleitung über Erfahrungen seiner in Kreuzberg groß gewordenen (volljährigen) Tochter berichtet, die bei einem Ausflug an die Ostsee von Nazis beschimpft und in Berlin mitunter von männlichen Migranten belästigt werde.

Die zwar nicht ausformulierte, aber implizierte Frage, die Özdemir mit diesen Beispielen stellte: Verurteilen wir Grüne beides gleichermaßen? Insgesamt war der Essay der Versuch, in der Migrationsdebatte auch unangenehme Alltagsevidenzen zuzulassen und nicht zu beschweigen. Aber Alltagsevidenz wird bei den Bündnisgrünen sehr viel lieber bei anderen Themen ausgespielt, etwa, wenn Flüsse über die Ufer treten oder das Land unter Hitze und Dürre ächzt. Der Weg zu politischen Forderungen ist dann nur einen Mausklick weit entfernt.

Özdemir habe einen Text aus „sehr persönlicher Perspektive“ geschrieben, erklärte eine führende Grüne am Montag, das klang ein bisschen nach Privatproblem. Am Abend zuvor war die designierte Parteivorsitzende Brantner im ZDF ebenfalls zu dem Text befragt worden. „Stehen Sie zu Özdemir?“, wollte der Moderator wissen. Es gehe ihr nicht darum, zu sagen, der eine hat recht oder der andere hat recht. „Sondern dass wir gemeinsam als Grüne schauen, was ist unsere Aufgabe“, lautete Brantners verhaltene Antwort.

Habeck wurde als „Kinderbuchautor“ vorgestellt

Klare Unterstützung erhielt Özdemir dagegen von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dem ehemaligen hessischen Wirtschaftsminister Tarek al-Wazir, beides Grüne. Die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler, schrieb auf X, Özdemir habe recht. „Ich habe keine Tochter, aber drei Nichten, die ähnliches berichten, wenn sie unterwegs sind. Es ist immer derselbe Typ von Männern, von denen sie sich belästigt fühlen. Wir können das weiter totschweigen oder klarmachen, dass wir das nicht weiter dulden“, heißt es in ihrem Tweet. Das habe „rein gar nix mit Rassismus zu tun. Das ist das Anerkennen der Realität“.

Immerhin spielte das Thema dann auf dem Außenpolitik-Panel im Kosmos doch noch eine Rolle, ohne dass Özdemirs Name fiel. Die Komplexe „Migration und Sicherheit“ müsse man endlich „zusammenbringen“, „dem Thema müssen wir uns stellen“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock. Wie das genau geschehen soll, wurde auf dem grünen Kongress freilich ausgespart.

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Auf dem letzten Panel im Kosmos saß dann Vizekanzler Habeck. Er wurde als „Kinderbuchautor“ vorgestellt, schönen Gruß an Friedrich Merz, der den promovierten Philosophen so tituliert hatte. Habeck ist dabei, sich ganz nach vorn zu schieben in seiner Partei. Um die Stimmung im Land ging es auch bei ihm. In einem Land, wo man nur noch rumbrülle oder sich resigniert zurückziehe, wolle doch keiner leben, sagte er.

Optimismus wird bei den Grünen momentan großgeschrieben. Früher nannte man das auch Pfeifen im Walde.

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