Brief aus Istanbul: Femizide und Hetze gegen Israel

Wozu dient der Staat? Grob gesagt, sorgt er für Sicherheit und Wohlstand. Hier in der Türkei aber hat sich der Staatsapparat in den letzten Jahren Schritt für Schritt weiter davon entfernt, diese seine Hauptfunktionen zu erfüllen. Mit Eta­­blierung des Erdoğan-Regimes haben wir in rechtlicher wie auch in wirtschaft­licher Hinsicht einen Niedergang erlebt. Zur Wirtschaft komme ich später. Derzeit haben wir ein weit existenzielleres Problem: Für Frauen wird das Land von Tag zu Tag mehr zur Hölle. Es kommt zu immer mehr Femiziden, weil Gesetze zum Schutz von Frauen demontiert wurden und Täter ungestraft davonkommen. Kürzlich sorgten wieder schlimme Verbrechen mitten in Istanbul für Empörung.

Zunächst kam es zu einer versuchten Vergewaltigung einer jungen Frau im historischen Viertel Beyoğlu, dem kulturellen Zentrum der Stadt. Es geschah auf einer besonders belebten Gasse, Überwachungskameras zeichneten den Vorfall minutiös auf. Wenige Stunden später wurden die Täter festgenommen, sie hatten bereits so einiges auf dem Kerbholz: sexuelle Belästigung, vorsätzliche Körperverletzung, Raubüberfall, Fahrzeugdiebstahl. Ihre Aus­sagen wurden aufgenommen. Und dann? Ließ man sie laufen! Erst auf Protest der Öffentlichkeit hin wurden sie am nächsten Tag dann doch verhaftet. Zur selben Zeit verübte ein Neunzehnjähriger zwei abscheuliche Morde, an ein und demselben Tag brachte er zwei Freundinnen um. Den ersten Mord beging er bei sich zu Hause, die zweite junge Frau brachte er auf eine der Istanbuler Stadtmauern, tötete sie, schnitt ihr den Kopf ab und warf ihn auf die Straße. Sekunden später sprang er selbst von der Mauer in den Tod.

Bülent Mumay
Bülent Mumayprivat

Nicht von ungefähr sind unsere Straßen dermaßen unsicher geworden und werden Frauen bei uns Opfer solch furchtbarer Verbrechen. Die Frauen wurden schutzlos, weil Erdoğan Zugeständnisse an seine radikal-islamischen Wähler machte. 2021 trat die Türkei aus der 2011 in dieser Stadt vereinbarten und nach ihr benannten Istanbul-Konvention aus, und zwar auf Beschluss Erdoğans, der sie zehn Jahre zuvor eigenhändig unterzeichnet hatte. Der Rückzug ermutigte Täter, Gewalt gegen Frauen auszuüben. Die niedrigste Anzahl, nämlich 121 Femizide, gab es 2011, als das Übereinkommen zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen unterzeichnet wurde. Was aber geschah nach dem Austritt? Allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres wurden 296 Frauen von Männern um­gebracht. Auch sexuelle Straftaten es­kalierten. Im vergangenen Jahr gab es über 193.000 angezeigte Fälle von „Verstößen gegen die sexuelle Integrität“, rund 60 Prozent mehr als im Vorjahr.

Sie müssen die Schule abbrechen, weil Geld fehlt

Für die Zunahme der Straftaten gegen Frauen ist neben dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention ein weiterer Grund relevant: die Straffreiheit. Dank verdeckter Amnestien der Regierung kamen Täter nach kurzer Haft frei – Mörder nach einigen Jahren, Vergewaltiger nach einigen Mo­naten. Fragt man allerdings Erdoğan, wirken sich weder die Amnestien noch der Austritt aus der Istanbul-Konvention auf Gewalttaten gegen Frauen aus: „Unser Rückzug aus der Istanbul-Konvention hatte nicht den kleinsten negativen Effekt auf Frauenrechte. Auch bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in unserem Land sind es unsere Kader, die große Fortschritte machen!“

Während Erdoğan Märchen von Fortschritt erzählt, hat die türkische Republik, vom Palastregime in einen „parteidominierten Staat“ verwandelt, neben unserer Sicherheit unseren Wohlstand verbrannt. Was wir letztes Jahr noch kaufen konnten, ist heute unerschwinglich. Die Wirtschaftspolitik der Regierung hat dazu geführt, dass die Hälfte der Bevölkerung entweder von einer Mindestrente von rund 330 Euro oder von Mindestlohn, umgerechnet rund 460 Euro, lebt. Laut offizieller Statistik hat die Quote permanenter Ar­mut inzwischen 13 Prozent erreicht, das sind Bürger, die seit vier oder mehr Jahren unterhalb der Armutsgrenze leben. Zudem sind 30,7 Prozent von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Zahl der Menschen an der Armutsgrenze hat sich binnen Jahresfrist beinahe verdoppelt, von 17,7 Millionen auf 32,1 Millionen. Noch dramatischer klingt folgende Statistik: Allein im letzten Jahr brachen 612.000 Minderjährige aus ökonomischen Gründen die Schule ab, weil die Familien die Aus­gaben für Bildung nicht mehr aufbringen konnten oder weil sie arbeiten müssen, um zum Familieneinkommen beizutragen.

Weitere seltsame Steuern

Zur Unsicherheit auf den Straßen kommt also die desolate Lage der Wirtschaft hinzu, da bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als Feindbilder zu kreieren. Nachdem Erdoğans Partei bei den Kommunalwahlen vom 31. März erstmals auf den zweiten Platz verwiesen worden war, griff er zu einem erprobten Feindbild: Israel! Bei seiner Ansprache zur neuen Legislaturperiode des Parlaments stellte Erdoğan die These auf, Israel werde als Nächstes die Türkei ins Visier nehmen: „Nach Palästina und dem Libanon wird es unser Heimatland sein, auf das die israelische Regierung ein Auge wirft.“ Nur wenige Monate zuvor hatte er Israel gedroht: „Wie wir in Bergkarabach reingegangen sind, wie wir in Libyen reingegangen sind, tun wir dasselbe mit ihnen.“ Letztes Jahr hatte er Tel Aviv bei einer propalästinensischen Solidaritätskundgebung gewarnt: „Wir könnten eines Nachts unvermutet kommen.“ Was ist geschehen, dass wir jetzt fürchten, das Land, das wir bedrohten, könnte uns angreifen? Zumal es von Israel keinerlei Initiative oder Drohung in dieser Hinsicht gibt?

Die Antwort auf diese Frage ließ nicht lange auf sich warten. Unter dem Vorwand, Israel könnte uns angreifen, wurde ein neues Steuerpaket von rund 2,2 Milliarden Euro verkündet. Um Protesten dagegen vorzubeugen, hieß es, die eingetriebenen Gelder flössen in den Verteidigungsetat. Bei der Vorstellung des Pakets sagte der AKP-Fraktionschef: „Wir haben keine Garantie dafür, dass die Türkei nicht das nächste Ziel Israels sein wird. Unter diesen Umständen (…) ist es unabdingbar, unsere Verteidigungsindustrie stärker zu machen als je zuvor.“ Die Erdoğan-Regierung, die sogar auf Toilettenpapier eine Lu­xussteuer erhebt, legt mit dem Paket „Sondersteuer gegen Israel“ weitere sonderbare Steuern auf. So muss etwa Sondersteuern zahlen, wer eine Drohne besitzt oder eine Uhr im Wert von über 135 Euro. Und wer eine Kreditkarte im Portemonnaie hat, muss dem Staat künftig eine Jahresgebühr dafür entrichten.

Un­terwegs werden die Papiere gewechselt

Denken Sie, Erdoğan, der es mit einer imaginären Bedrohung durch Israel auf die Stimmen von Nationalisten sowie auf den letzten Kurusch in unseren Taschen abgesehen hat, wäre nun tatsächlich mit der Netanjahu-Regierung verfeindet? Nehmen Sie seine Erklärung: „Ebenso wie Hitler mit einem Bündnis der Menschheit gestoppt wurde, werden auch Netanjahu und seine Mordbande auf dieselbe Weise gestoppt werden“ zum Jahrestag des Anschlags vom 7. Oktober ernst? Manche von Ihnen kennen sicher den Film „Die Unbestechlichen“ über den Watergate-Skandal, über den Nixon stürzte. Darin rät der Informant „Deep Throat“ den Jour­nalisten, die den Skandal aufdeckten: „Folgt der Spur des Geldes.“

Folgen auch Sie der Spur des Geldes, falls Sie annehmen, Erdoğan habe Israel ins Visier genommen. Schauen Sie etwa auf das Embargo, dass Erdoğan nach seiner Wahlniederlage vom 31. März gegen Israel verhängen musste, nachdem er nach dem Anschlag vom 7. Oktober monatelang gezögert hatte. Obwohl Erdoğan-Anhänger Filialen von US-Ketten wie Starbucks oder Burger King überfielen, weil diese angeblich Israel unterstützen, lief der türkische Handel mit Israel auf Hochtouren weiter, trotz des angeb­lichen Embargos. Wir haben nie aufgehört, das durch die Pipeline ankommende Erdöl aus Aserbaidschan mit Tankschiffen nach Israel zu befördern. In der Türkei produzierte Waren lieferten wir über Drittländer wie Ägypten und Griechenland nach Israel. Dann fiel uns eine ein­fachere Lösung ein: Die Schiffe verlassen die Türkei mit Papieren, die für den Export nach Palästina ausgestellt sind, un­terwegs werden die Papiere gewechselt und die Schiffe in israelischen Häfen entladen. Wie sonst könnte der türkische Handel mit Palästina innerhalb von neun Monaten auf das Vierzehnfache angestiegen sein? Wie wäre möglich, dass unser Stahlexport in das von israelischen Angriffen zerstörte Palästina in­nerhalb eines Jahres um 30.930 Prozent gestiegen ist?

Millionen im Handel, Millionen an Steuern

Die janusköpfige Haltung der türkischen Regierung in Sachen Israel zeigt sich auch auf lokaler Ebene. Und zwar in tragikomischen Beispielen. In Rize, der Stadt, aus der Erdoğans Familie stammt, eröffnete kürzlich eine neue Burger-King-Filiale. Dass ein AKP-Bürgermeister dabei war, erregte den Unmut der Parteibasis. Die Verteidigung des Bürgermeisters aber lautete: „Ich war lediglich bei der Burger-King-Eröffnung anwesend, gegessen habe ich nichts. Hätte ich etwas verzehrt, wäre ich Komplize der Sünden Israels geworden.“ Was aber erfuhren wir ein paar Tage später? Der Bürgermeister ist Regionalvertreter eines Unternehmens, das auf der Boykottliste gegen Israel steht. Zu den Initiatoren der Anti-Israel-Kampagne gehörte Ali Erbaş, der Vorsitzende der staat­lichen Religionsbehörde Diyanet. An antiisraelischen Demonstrationen beteiligte er sich gemeinsam mit seinem Schwiegersohn. Der Schwiegersohn indes ist Vertriebshändler einer israelischen Firma, die ebenfalls auf der Boykottliste steht.

Folgen Sie der Spur des Geldes, hatte ich Ihnen wie im Film geraten. „The President’s Men“ (der Originaltitel der „Unbestechlichen“) verdienen weiter Millionen mit dem Handel mit Israel, wir dagegen zahlen weiter Sondersteuern für Erdoğans Etat, weil Israel ja angreifen könnte.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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