In Wien sprechen Gerhard Schröder und Viktor Orban über die Ukraine

Der Saal ist voll, und eigentlich steht jetzt schon fest, dass nichts schiefgehen kann an diesem Abend in Wien. „Frieden in Europa“ lautet das Motto, unter dem die Schweizer Zeitung „Die Weltwoche“ zur Diskussion geladen hat – und wer wäre gegen Frieden in Europa? Es diskutieren der deutsche Altkanzler Gerhard Schröder und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, als moderierender Stichwortgeber fungiert Weltwoche-Chef Roger Köppel. Der freut sich in seiner Anmoderation darauf, „zwei herausragende Staatsmänner“ zu Gast zu haben.

Schröder sei ein „Sozialdemokrat von eindrücklichem Werdegang“, gar ein „brillanter Realpolitiker“, der die Interessen seines Landes über seine Karriere, sein Amt und seine Partei gestellt habe. Orbán wiederum der dienstälteste Ministerpräsident der Europäischen Union, „ein Freiheitskämpfer der allerersten Stunde“, der schon zur Zeit des Kalten Krieges gegen die sowjetischen Panzer in Budapest auf die Barrikaden gegangen sei. Das verwundert, falls damit der von Moskau niedergewalzte Ungarn-Aufstand gemeint gewesen sein sollte, denn der fand sieben Jahre vor Orbáns Geburt statt. Doch auf solche Details wird es an diesem Abend ohnehin nicht ankommen.

Es geht um Emotionen, um die wärmende Erzählung von der eigenen moralischen Überlegenheit in einer bald bösen, bald tumben Welt, die einfach nicht verstehen will, warum es für alle am besten wäre, wenn die Ukrainer endlich aufhören würden, sich gegen die Invasion Russlands zu wehren. Köppels superlativische Ankündigung seiner Gäste wird von Applaus begleitet, und als er Orbán einen Freiheitskämpfer nennt, gibt es sogar Gejohle. Das Publikum, das war schon draußen aus den Gesprächen in der Warteschlange deutlich geworden, muss nicht erst überzeugt werden an diesem Abend. Es ist bereits überzeugt von der Weltsicht der beiden Protagonisten, deshalb sind die Leute gekommen. Was im Laufe des Abends gesagt wird, ist dann nur noch Bestätigungen dessen, was man ohnehin zu wissen glaubt.

Kritik an von der Leyen kommt gut an

So ist es zum Beispiel, als Viktor Orbán davon erzählt, dass die EU gar keinen Frieden in der Ukraine wolle und dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die treibende Kraft hinter diesem Friedensunwillen sei: „Sie geht allen voran, sie zeigt Flagge. Sie sagt, die Russen müssen im Krieg besiegt werden, und die Ukraine muss alles bekommen, damit das passiert. Und alles, was den Frieden betrifft, wird als Verrat, als Demokratiefeindlichkeit, als nicht salonfähig bezeichnet und beiseitegeschoben“, beklagt sich Orbán. Applaus. Ähnlich bei Schröder, als er Orbáns „Friedensinitiative“ lobt und fragt: „Seit wann wird man wegen Friedensinitiativen gescholten in diesem Land?“ Applaus.

Orbán sagt, durch die ungarische EU-Ratspräsidentschaft sei erreicht worden, dass in Europa über Frieden und über Waffenstilltand geredet werde: „Vor der ungarischen Präsidentschaft konnte man darüber nicht einmal sprechen.“ Applaus. Als Schröder Donald Trump lobt, weil der versprochen habe, „dass Amerika unter seiner Führung einen Beitrag zur Beendigung des Krieges leisten würde“, gibt es ebenfalls Applaus. Und als Orbán sagt, dass es für Europas Politiker besser sei, die Brüsseler Bürokraten abzuwürgen, statt sich von ihnen abwürgen zu lassen – Applaus.

Oft gilt der Applaus sogar dem Moderator. Der befindet sich mit seinen beiden Diskutanten und dem Publikum tatsächlich in bestem Einvernehmen. Köppels Fragen werden mehrfach beklatscht. „Werden wir heute von geschichtsblinden und wohlstandsverwahrlosten Politikern regiert?“ fragt Köppel etwa und erntet Applaus, bevor Orbán zu einer bejahenden Antwort ansetzt. „Was ist die Zukunft der EU? Hat sie überhaupt eine?“, will Köppel wissen und bekommt wiederum Beifall, bevor Orbán die Steilvorlage dankbar aufnimmt.

Zum Frieden zwingen

„Die Leute wollen, dass dieser Krieg zu Ende geht“, gibt Köppel das Leitmotiv des Abends vor. Die Antworten, die Schröder und Orbán geben, laufen letztlich alle darauf hinaus, dass die Ukraine zum Frieden gezwungen werden müsse, indem der Westen ihr die Unterstützung versagt, auch wenn Orbán diese vermeintliche realpolitische Weisheit brutaler und ungeschminkter auf den Punkt bringt als Schröder. Der Altkanzler sagt: „Es kann doch nicht sein, dass man hergeht und sagt, wir werden über Waffenlieferungen an die Ukraine Russland zu einem Frieden zwingen.“ Damit sagt er zwar nicht direkt, der Abwehrkampf der Ukraine solle nicht mehr mit Waffen unterstützt werden – doch diese naheliegende Schlussfolgerung aus seinem Satz kann Schröder getrost dem Publikum überlassen. Er würde sich wünschen, sagt Schröder an anderer Stelle im gleichen Geiste, dass der Westen die materielle und militärische Unterstützung der Ukraine „mit der dortigen Bereitschaft“ verbinde, eine Friedensinitiative zu unterstützen.

„Herr Schröder, wäre Putin grundsätzlich bereit nach wie vor, Verhandlungen zu führen?“, fragt Köppel in diesem Sinne und schlägt damit einen anderen Grundakkord des Abends an: Es geht oft darum, was Russland will oder wollen könnte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Menschen in der Ukraine tauchen in solchen Fragen dagegen nicht auf, sie sind Verfügungsmasse in den Planspielen für einen Frieden zu russischen Bedingungen. „Dieser Krieg wurde verloren. Das ist die militärische Realität“, sagt Orbán. Jeder vernünftige Militärexperte wisse, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne. Das erinnert an die Aussagen in den ersten Tagen nach dem russischen Überfall, als im Lager der „Friedensfreunde“ behauptet wurde, es habe keinen Sinn, die Ukraine mit Waffen zu beliefern, weil sie den Krieg ohnehin verlieren werde. Fast zwei Jahre und zehn Monate ist das inzwischen her.

Journalisten-Darsteller in Aktion

Schröder steuert zu dem bunten Abend einige seiner bekannten Putin-Exkulpationen bei, etwa wenn er über seinen russischen Freund und Gönner sagt, er glaube, „dass man nachweisen kann, dass er keineswegs nur Kriegsherr sein will und ist, sondern, dass er sich auch Gedanken darüber macht, wie man diesen Krieg beenden könnte.“ Moderator Köppel interessiert sich nicht zuletzt für das Seelenleben des Kremlherren und demonstriert mit seinen Fragen eindrucksvoll, warum manche ihn für den begabtesten Journalisten-Darsteller im deutschsprachigen Raum halten. Man sage, Putin wolle die alte Sowjetunion zurück, leitet Köppel eine seiner ornamentalen Fragen ein, und dann, an Schröder gewandt: „Haben Sie mit ihm einmal darüber gesprochen? Haben Sie gesagt: ´Wladimir, willst du eigentlich die Sowjetunion zurückerobern, was ist mit Dir los?´ Habt ihr mal bei einem Glas Wein irgendwo in einem seiner Paläste oder Bunker darüber gesprochen?“

Erstaunlicherweise hat Schröder aber offenbar nicht bei einem Glas Wein mit Putin über dessen Pläne zur Reconquista der UdSSR geplaudert. Er glaube, sagt Schröder stattdessen, dass Putin „ein bestimmtes Interesse daran hat, Russland als Ganzes zu erhalten“ und das Land „vor Angriffen von außen“ zu schützen. Dient der russische Angriff auf die Ukraine also nur dem Erhalt Russlands? Das sagt Schröder nicht, überrascht aber durch die These „natürlich“ wisse Putin „um die Zwecklosigkeit dieses Krieges.“

Russlands Botschafter war auch da

An einer Stelle scheint der Abend, mit dessen Verlauf der anwesende russische Botschafter gewiss zufrieden war, dann tatsächlich kurz überraschend und sogar spannend zu werden: „Putin ist ein imperialistischer Diktator, der mit der Ukraine einen ersten Markstein setzt für weitere Eroberungen“, stellt Köppel fest und geht noch weiter: „Wir müssen Putin stoppen, denn wenn wir ihn jetzt nicht stoppen, wird er belohnt für seine militärische Aggression, für seinen Angriffskrieg, und das ist ein fürchterliches Schwächezeichen der westlichen Welt. Und wenn wir das zulassen, wäre das eigentlich eine Einladung an alle Potentaten und an alle Aggressoren, den Westen anzugreifen.“ Woher plötzlich solche Töne? Hat Köppel seine Gäste nur eingelullt und fällt nun in einer journalistischen Shock-and-Awe-Kampagne über sie her? Doch dann wird rasch klar: Er zitiert nur die Kritiker Orbáns und will Ungarns Regierungschef die Gelegenheit geben, sie zu widerlegen.

Orbán hofft vor allem darauf, dass ein Wahlsieg Donald Trumps in den USA zu einer Friedenslösung in der Ukraine nach seinen Vorstellungen führen wird. Er geht fest von einem Sieg Trumps aus, und danach würden sich die Republikaner „im Handumdrehen mit dem russischen Präsidenten hinsetzen, um Verhandlungen zu führen“. Dabei werde es zu einem russisch-amerikanischen Vertrag über die Ukraine kommen. „Nicht auf eine komplizierte, intellektuelle Art und Weise“ werde das geschehen, sondern als Folge eines harten Ringens um Macht, Soldaten und Rohstoffe. „Da wird nicht moralisiert, liebe Freude, da kommt es zu Realpolitik.“ Diesem Vorbild stellt der Ungar Europas Politik als Ausbund von „Dummheit, diplomatischem Analphabetismus und menschlicher Barbarei“ gegenüber.

Und so lautet die unausgesprochene Botschaft dieses Abends in Wien: Hätte die Welt nur früher gehört auf Schröder und Orbán, gäbe es keinen Krieg mehr in der Ukraine. Dass es vermutlich auch keine Ukraine mehr gäbe, steht auf einem anderen Blatt.

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