Naheliegend ist es, den Austausch von US-Präsident Joe Biden durch Harris als Spitzenkandidatin der Wahl 2024 als größten Fehler zu betrachten. Manche Demokratinnen und Demokraten meinen, Biden habe zu lange gebraucht, um sich aus dem Rennen zurückzuziehen.
In der Tat waren Bidens Umfragen seit Monaten schlecht und sein Gesundheitszustand sorgte häufig für Spekulationen. So hatte der 81-Jährige sprachliche Aussetzer und war bei internationalen Auftritten wackelig auf den Beinen. Bidens Entscheidung, im Juli aus dem Rennen auszusteigen, erfolgte erst nach immensem Druck innerhalb der Partei.
Sanders: „Arbeiterklasse im Stich gelassen“
Harris übernahm dann plötzlich die Führung und ohne demokratische Beteiligung der eigentlichen Wählerinnen und Wähler – schließlich drängte die Zeit. Ihr nur drei Monate langer Wahlkampf setzte die Hoffnung auf Stimmen von marginalisierten Gruppen und Frauen – einschließlich republikanischer Frauen, die sich um das Abtreibungsrecht sorgten. Die Umfragen erholten sich für die Demokraten, das Rennen um das Weiße Haus schien knapp zu werden.
Der progressive US-Senator Bernie Sanders argumentierte, Harris habe jedoch die Anliegen der Arbeiterklasse ignoriert, die unter der Inflation leide. „Es sollte nicht überraschen, dass eine demokratische Partei, die die Arbeiterklasse im Stich gelassen hat, feststellen muss, dass die Arbeiterklasse sie im Stich gelassen hat“, schrieb der unabhängige Senator aus Vermont in einer Erklärung am Mittwoch.
„Politico“: Zu wenig Distanz zu Biden
Bidens Vizepräsidentin wurde nicht überraschend stark mit der Biden-Regierung verbunden, die laut einer aktuellen Umfrage von Edison-Research fast ein Drittel der US-Bevölkerung als zu schwach ansieht, um Israel zur Mäßigung im Nahen Osten zu bewegen. Die Reaktion der Biden-Regierung auf den Krieg zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas war eine fortwährende Sorge für Analystinnen und Analysten. Die Befürchtung war, dass Biden Israel in Gaza freien Lauf lassen könnte, was progressive, muslimische, arabische und andere Wählerinnen und Wähler verärgern hätte können.
Zusammen mit dem Krieg in der Ukraine war der Krieg im Nahen Osten das vorherrschende außenpolitische Thema im US-Wahlkampf – eng damit verbunden freilich die finanziellen Mittel, die als Unterstützung einzelner Kriegsparteien fließen. Das Nachrichtenmagazin „Politico“ argumentierte, Harris habe sich nicht klar von Biden distanziert. Das habe letztlich ihre Hoffnungen auf das Präsidentenamt zunichtegemacht.
„Ergebnis spiegelt nicht Trumps Anziehungskraft wider“
Am Mittwoch veröffentlichte das Uncommitted National Movement, eine Protestbewegung, die die US-Regierung dazu bewegen will, eine Waffenruhe in Gaza zu erwirken, eine Erklärung, in der sie die Biden-Regierung direkt für das Ergebnis der Wahl 2024 verantwortlich machte.
„Das Ergebnis dieser Wahl spiegelt nicht Donald Trumps Anziehungskraft wider; es ist eine ernüchternde Erinnerung daran, dass die Demokratische Partei den Kontakt zu den Gemeinschaften verloren hat, die einst ihren Fortschritt vorangetrieben haben“, heißt es in der Erklärung der Gruppe. Die Organisation wies darauf hin, dass das Vakuum, das die Demokraten hinterlassen hätten, Trump erlaubt hätte, sich als „profriedliche“ Alternative darzustellen.
Laut einer Umfrage von AP-NORC vom Oktober machen mehr als die Hälfte der demokratischen Befragten Israel für die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten verantwortlich. Etwa 60 Prozent der demokratischen Befragten gaben an, Israel trage „sehr“ viel Verantwortung für den Krieg, verglichen mit nur etwa einem Viertel der Republikaner.
Demokraten machen Biden für Wahldebakel verantwortlich
Der Republikaner Donald Trump hat bei der US-Präsidentschaftswahl nicht nur alle „Swing-States“, die Republikaner haben auch den Senat zurückerobert. Die Demokraten suchen die Gründe für die Niederlage – ins Visier gerät dabei US-Präsident Joe Biden.
Walz zu links?
Lindy Li vom Democratic National Committee (DNC), der offiziellen Vertretung der Demokraten in den USA, stellte auf Fox News infrage, ob Harris’ Vizekandidat Tim Walz vielleicht zu links für Wählerinnen und Wähler gewesen sein könnte. „Die Leute fragen sich, was passiert wäre, wenn (Josh, Anm.) Shapiro auf dem Ticket gestanden wäre. Und das nicht nur in Bezug auf Pennsylvania“, sagte sie. Shapiro ist der Gouverneur von Pennsylvania und galt als möglicher „Running Mate“ von Harris. Das Rennen machte dann aber Walz.
Li deutete gegenüber Fox News an, dass Walz zu progressiv gewesen sei und die Wahl eines gemäßigten Kandidaten wie Shapiro ein anderes Zeichen hätte setzen können. „Aber sie hat sich für jemanden entschieden, der tatsächlich links von ihr stand“, so Li weiter.
Andere Expertinnen und Experten machten die Wählerinnen und Wähler selbst für den Ausgang der US-Wahl verantwortlich. Schließlich gewann Trump nicht nur die Mehrheit der Wahlleute, sondern auch tatsächlich das „Popular Vote“, also die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen.
Die Rolle von Rassismus und Misogynie
MSNBC-Moderatorin Joy Reid gab weißen Frauen bzw. ihrem Rassismus die Schuld und kritisierte diese dafür, dass sie „ihre Zahlen“ nicht erreicht hätten. „Wir müssen deutlich sagen, warum: Schwarze haben sich für Harris entschieden, weiße Frauen nicht“, sagte Reid. Doch so einfach ist es nicht. Während weiße Frauen möglicherweise in geringerer Zahl zur Urne schritten, als die Partei gehofft hatte, verließen viele schwarze Männer die Partei für Trump.
Laut Wählerbefragungen gewann Trump 2020 nur acht Prozent der schwarzen Wählerinnen und Wähler. Dieser Anteil stieg 2024 auf 13 Prozent. Er gewann auch bei hispanischen Wählerinnen und Wählern, wo seine Unterstützung von 32 Prozent auf 45 Prozent stieg. Das veranlasste MSNBC-Moderator Joe Scarborough, Misogynie für Harris’ Niederlage verantwortlich zu machen. „Die Demokraten müssen ehrlich sein und sagen: ‚Ja, es gibt Misogynie, aber es ist nicht nur Misogynie von weißen Männern‘“, so Scarborough. „Es ist Misogynie von hispanischen Männern, von schwarzen Männern, die keine Frau an ihrer Spitze wollen.“
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