Das RBB-Talkformat „Wir wollen reden“ zum Ampel-Aus wurde zu einer Debatte, die mustergültig sowohl die Leerstellen im politmedialen Diskurs als auch die enorme Kluft zwischen Politik und Bürgern offenbarte. Die Quittung gab es am Ende in einer Zuschauerumfrage, die die Politik alarmieren sollte.
„Wie können Politiker Vertrauen zurückgewinnen“, war eine der Fragen, die sich der RBB für das Talkformat „Wir wollen reden“ am Dienstagabend auf die Agenda gesetzt hatte. Anlass war der Bruch der Ampelkoalition auf Bundesebene, und um die Folgen aus Berlin-Brandenburger Perspektive zu analysieren, hatte die Gästerunde Lokalkolorit: Der frühere Berliner Regierende Bürgermeister und aktuelle Bundestagsabgeordnete Michael Müller war ebenso zu Gast wie Ottilie Klein, MdB und Generalsekretärin der CDU Berlin und Michael Kellner, Grünen-MdB und parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Komplettiert wurde die Runde durch die Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp.
Es war nicht Miosga, nicht Hart aber Fair, nicht Illner. Dennoch stand diese einstündige Diskussion aus dem Regionalfernsehen mustergültig und schonungslos für die Leerstellen, die sich im medial-politischen Diskurs auftun, und für die enorme Kluft zwischen der politischen Klasse und den einfachen Bürgern.
„Vertrauen zurückgewinnen – hat jemand ein Patentrezept?“, fragte Moderator Sascha Hingst in die Runde, und die Antworten, die er bekam, waren Stanzen, die die Menschen in den vergangenen Jahren Hunderte Male serviert bekommen haben. Michael Kellner versuchte zunächst, das den Grünen anhaftende Image der Verbotspartei zu entkräften: „Es ist mir egal, ob im Fernsehen Winnetou gezeigt wird oder nicht“, im Wahlkampf müsse es um ernsthafte Probleme gehen.
Was da ganz oben steht, musste Hingst ihn nicht zweimal fragen: Klimaschutz! Kellner war sich nicht zu schade, in seine Kausalkette die Hochwasserkatastrophe von Valencia einzuflechten, obwohl das dort regelmäßig auftretende Wetterphänomen „Gota Fria“ im Jahr 1957 sogar zu Niederschlägen von 817 Litern pro Quadratmeter binnen 24 Stunden geführt hat – mehr als die Menge, die zuletzt die verheerenden Schäden in der spanischen Metropole angerichtet hat.
Etwas näher dran am deutschen Wähler war Ottilie Klein. Man brauche eine Politik, „die sich an der Lebenswirklichkeit der Menschen“ orientiere. Da hatte sie einen Punkt – theoretisch. Doch nach einem kurzen Schlenker zum Thema Inflation, illustriert durch die hohen Butterpreise, folgte lediglich die Erkenntnis, dass Politik Probleme lösen müsse, anstatt sie zu schaffen.
Michael Müller, Berlins früherer Bürgermeister, lenkte den Fokus gar ganz weg von der Politik und nahm die Bürger in die Pflicht. Sie seien es, die ein Mindestmaß an Interesse aufbringen müssten. „Politik ist nicht nur Bring-, sondern auch Holschuld“, belehrte er.
Es könnte ein Indiz für das Ausmaß der Entrücktheit des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks sein, dass der RBB sich in diesen Zeiten traut, Live-Abstimmungen unter den Zuschauern daheim am Flatscreen durchzuführen – und damit die Kontrolle über die Deutungshoheit über die eigene Sendung abzugeben. Der erste Poll erfolgte Mitte der Sendung. Er generierte schon mal einen Schuss vor den Bug: Ganze 26 Prozent der Zuschauer beantworteten die Frage „Haben Sie noch Vertrauen in die Bundespolitik?“ mit „Ja“.
Kurzes betretenes Schweigen in der Runde, ehe es mit Fragen aus dem Publikum weiterging. Ein Abiturient sorgte sich um Fake news in den sozialen Medien (Kellner: „Unbedingt regulieren!“), eine Sozialarbeiterin fürchtete, ihr Projekt könne von den Kürzungen betroffen sein, die die allenthalben grassierende Finanznot erforderlich macht.
Eine andere Dame aus dem Publikum war die einzige, die das Thema Flüchtlinge ansprach, indem sie sich sorgte, die etablierten Parteien könnten mit einem Rechtsschwenk dafür sorgen, dass weniger „Geflohene“ nach Deutschland kommen. Ein Thema, das keiner der Diskutanten noch einmal aufgriff und das so zum Elefanten im Raum wurde. Dabei fordern 70 Prozent der Bürger eine Verschärfung der bestehenden Regelungen in der Flüchtlingspolitik.
Doch in der Welt der Politiker scheint der wachsende Unmut der Bürger über die ungebremste Zuwanderung nicht vorzukommen. Auch nicht, dass Berlin ein Ankunftszentrum für Flüchtlinge auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tegel hat, das mit 4200 Menschen überfüllt ist und das das Land Berlin im Jahr 2024 rund 455 Millionen Euro kosten wird, also knapp 300 Euro pro Kopf und Tag. Genauso wenig, dass es in Lichtenberg wütende Anwohnerproteste gibt, weil dort zur Entlastung der Unterkunft in Tegel in drei Hochhäusern insgesamt 1200 Migranten untergebracht werden sollen. Oder dass inzwischen fast täglich sogenannte propalästinensische Demonstrationen stattfinden, auf denen mittlerweile sogar Kinder antisemitische Parolen brüllen, ohne dass die Stadt unter ihrem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU, „Antisemitismus hat in Berlin keinen Platz“) glaubwürdig dagegen vorgehen würde.
Wer in einem Talk über Vertrauen in die Politik im Land Berlin diese Probleme, die die Menschen offenkundig massiv umtreiben, nicht proaktiv anspricht und so den Eindruck erweckt, sie unter der Decke halten zu wollen, handelt fahrlässig und treibt immer mehr Wähler an die politischen Ränder. Das gilt für die teilnehmenden Politiker genauso wie für den Moderator. Was das mit den Zuschauern macht, davon konnte sich die Runde dann am Ende der Sendung noch selbst überzeugen.
Denn nach der obligatorischen Talkshow-Kurzrunde über die Frage, wie man das Bundesverfassungsgericht am besten dazu bekommen könnte, die AfD zu verbieten, folgte zum Ende der Sendung der zweite Teil der Zuschauerabstimmung. „Wen wünschen Sie sich als Kanzler“, lautete die Frage an die rund 1000 Teilnehmer. Das Ergebnis – „nicht repräsentativ“, wie sich der Moderator mehrmals beeilte, in die aufgeregte Runde zu rufen: Robert Habeck 29 Prozent, Friedrich Merz 22 Prozent, Olaf Scholz 12 Prozent – Alice Weidel 37 Prozent.
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