Dreimal ist Marine Le Pen am Wählerwillen gescheitert, ihren Einzug als Präsidentin in den Élysée-Palast könnte fortan ein Pariser Strafgericht vereiteln. Die Staatsanwaltschaft hat am Mittwoch eine Haftstrafe von fünf Jahren, davon drei auf Bewährung, für die 56 Jahre alte Rechtspopulistin gefordert. Wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder soll sie zudem eine Geldbuße von 300.000 Euro zahlen.
Noch härter dürfte Le Pen der verlangte Entzug des passiven Wahlrechts für fünf Jahre mit sofortiger Wirkung treffen. Das bedeutet, dass es keine aufschiebende Wirkung gibt, auch wenn Le Pen in die Berufung gehen würde. Die beiden Staatsanwälte wiesen darauf hin, dass sie dem Willen des Gesetzgebers entsprechen.
Tatsächlich ist nach etlichen Veruntreuungsskandalen der Ermessensspielraum der Richter eingeschränkt worden. Die Veruntreuung von öffentlichen Geldern zieht automatisch den Entzug des passiven Wahlrechts nach sich. Aber es ist eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft, eine sofortige Vollstreckung zu verlangen. Während des Plädoyers im Gerichtssaal in Paris saß Marine Le Pen in der ersten Reihe auf der Anklagebank und hörte scheinbar stoisch zu.
Le Pen hat zuletzt viel Zeit vor Gericht verbracht
Die Fraktionsvorsitzende des Rassemblement National (RN) hat in den vergangenen sechs Wochen mehr Zeit vor Gericht als in der Nationalversammlung verbracht. Die Staatsanwältin Louise Neyton weist gleich zu Beginn zurück, der Partei sei ein politischer Prozess gemacht worden. Sie zählt auf, dass insgesamt vier Untersuchungsrichter die Vorwürfe geprüft hatten und zu dem Schluss gekommen waren, dass es hinreichende Indizien gab, um eine Gerichtsverhandlung zu eröffnen. Von „politischer Verfolgung“ könne nicht die Rede sein. Es werde allein auf der Grundlage der Beweislage Recht gesprochen.
Die Vorgänge seien „aufgrund ihres Umfangs, ihrer Dauer und des organisierten und systemischen Charakters beispiellos“, sagt die Staatsanwältin. Die Anwälte des EU-Parlaments haben den entstandenen Schaden für die EU-Steuerzahler auf 4,5 Millionen Euro beziffert, wovon 3,4 Millionen Euro nicht zurückgezahlt wurden. Die Staatsanwältin sagt am Mittwoch, das Verhalten habe der Demokratie in Europa und in Frankreich „schweren und dauerhaften Schaden“ zugefügt.
Der Gelassenheit ist Nervosität gewichen
Die Gelassenheit, die Le Pen zu Beginn des Prozesses zur Schau stellte, ist in den zurückliegenden Wochen Nervosität gewichen. Ihren 23 Mitangeklagten fiel es schwer, ihre Arbeit als parlamentarische Mitarbeiter im EU-Parlament nachzuweisen. Aus gesundheitlichen Gründen müssen sich Parteigründer Jean-Marie Le Pen und ein weiterer Angeklagter nicht vor Gericht verantworten.
Die Partei, die Marine Le Pen von 2011 bis 2022 leitete, ist auch als juristische Person angeklagt. Die Staatsanwälte forderten eine Geldbuße in Höhe von 4,3 Millionen Euro für die Partei. Der Hinweis auf das mutmaßlich missbräuchliche System der Le-Pen-Partei kam 2015 von der für Betrugsfälle zuständigen Behörde des EU-Parlaments, OLAF, und wurde vom damaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) an die französischen Behörden weitergeleitet.
Da ist beispielsweise der Fall von Julien Odoul, der heute als Abgeordneter in der Nationalversammlung sitzt. Er arbeitete zuvor in der RN-Parteizentrale und akzeptierte, als parlamentarischer Mitarbeiter im EU-Parlament entlohnt zu werden. „Ich würde wirklich gern einmal das Europäische Parlament kennenlernen“, schreibt er in einer E-Mail an Le Pens Kabinettsdirektor. „Das würde mir auch erlauben, die EU-Abgeordnete kennenzulernen, der ich zugeordnet wurde“, steht in Odouls E-Mail.
„Ich glaube, Marine weiß das alles“
Gegen Odoul forderten die Staatsanwälte eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten, 20.000 Euro Geldbuße und ein Jahr Unwählbarkeit. Ähnlich belastend ist ein Schriftwechsel zwischen dem langjährigen Schatzmeister Wallerand de Saint-Just und dem EU-Abgeordneten Jean-Luc Schaffhauser.„Marine verlangt von uns unsere Unterschrift unter fiktive Beschäftigungsverhältnisse. Die Abgeordneten sind dafür strafrechtlich verantwortlich“, warnte Schaffhauser.
Der Schatzmeister antwortete: „Ich glaube, Marine weiß das alles.“ Vor Gericht argumentierte er, man dürfe ihn nicht wörtlich nehmen, er habe den cholerischen EU-Abgeordneten nur abwimmeln wollen. Staatsanwältin Neyton bezieht sich am Mittwoch direkt darauf. „Die parlamentarischen Mitarbeiter haben nicht für die EU-Abgeordneten gearbeitet, sondern für die Führungskader der Partei“, sagte sie. Die Parteiführung habe ein System der Querfinanzierung organisiert, um Personalkosten zu sparen. „Seit Marine Le Pen die Partei leitet, ist das System ausgebaut worden“, klagt die Staatsanwältin an.
Obwohl sie als Rechtsanwältin arbeitete, will Le Pen erst am 6. November aufgefallen sein, dass sie im Falle einer Verurteilung automatisch nicht mehr für ein Wahlamt kandidieren kann. „Dieser Automatismus, den ich für rechtlich fragwürdig halte, hätte äußerst schwerwiegende Folgen“, warnte sie im Gerichtssaal. „Millionen und Abermillionen Franzosen würden sich ihrer Kandidatin beraubt sehen“, sagte sie. Dabei plädiert der RN regelmäßig für die Einführung von Mindeststrafen, um den Ermessensspielraum der Richter einzuschränken. Das Urteil im RN-Prozess wird für Anfang 2025 erwartet.
Antworten