Wer am Freitagabend beim Grünen-Parteitag hören wollte, was Robert Habeck zu sagen hat, der musste sich zunächst viele andere Reden anhören. Insgesamt vier Stunden lang. Sie kamen großteils von Zufalls-Delegierten, die in basisdemokratischem Losverfahren ermittelt, jeweils zwei, drei Minuten im grün-weißen Rampenlicht verbringen durften und ihre eigene Begeisterung darüber geradezu herausbrüllten.
Und dann trat noch Claudia Roth auf, die an Lautstärke noch immer alle übertrifft und deren höchstfarbiges Kostüm wie üblich jede weitere Dekoration in der holzgetäfelten Kongress-Halle in welken Schatten stellte. „Seien wir Grün mit Herz, Verstand – und Liebe“ rief sie den Delegierten zu, „seien wir einfach knallgrün!!!“
Dann nochmal zwei Los-Redner, eine ukrainische Schriftstellerin, abermals vier Los-Redner und schon war es so spät, dass die meisten Zuschauer des Senders Phoenix schon nach dem Schlafzimmer geblinzelt haben dürften. Dann also Habeck, leibhaftig. Der überraschte dann mit einem kurzen, wuchtigen Auftritt.
In Wiesbaden begann er seine Rede (21:25 Uhr) mit Erinnerungen an den großen Freiheitsmoment des 9. November 1989 und zog rasch eine Linie zum Kampf der Ukraine um ein Leben, das ihnen Frieden in Freiheit eintragen soll.
Doch die Werte alleine, reichte nicht, der Freiheit zum Sieg zu verhelfen. „Es ist nicht sicher, dass das Unwahrscheinliche nicht auch in Europa und Deutschland passiert“. Dagegen müsse das Land, müsse Europa sich wappnen. Der Parteitag habe jetzt die Aufgabe: „den Unterschied zu markieren, dem Land sagen, was in der Welt los ist, dass die Autokratien einen gemeinsamen Angriff auf die demokratischen Werte“ begonnen hätten. Es seien „fossile Regime“ allesamt, die jetzt auch im Westen – Blick nach Amerika – „Geldadel und autokratische Macht“ eine Verbindung eingingen. Es brauche dem gegenüber „ein Bündnis der Demokratien in einer Europäischen Union, die stark und stärker werden muss“.
Deutschlands Aufgabe sei es dort „dienend zu führen“, sich in den Dienst der Sache zu stellen. Und dies – ebenso wie das Verständnis was Integration und Soziale bedeute, gebe es „nur bei uns, nur in dieser Halle“, rief Habeck und endete seine Rede nach kaum zehn Minuten unter heftigem Beifall der Delegierten.
Vor anderthalb Wochen hatte der Grüne-Spitzenpolitiker in einem ersten und einfühlsamen Werbefilm Andeutungen einer Kandidatur veröffentlicht. Da er dazu eine Melodie des Liederschreibers Herbert Grönemeyer summte, rechtwidrig, wie der über seinen Anwalt darlegen ließ, verschwand der Film aus dem Internet so schnell, wie eine Sternschnuppe vom Abendhimmel. Am Freitag hatte Habeck dann am Küchentisch eines Freundes einen weiteren Film gestaltet. Darin brachte er seine Bewerbung vor, auch als Kanzler, wenn die Wähler dies wöllten. Eine jedenfalls ungewöhnliche Annäherung an die Aufgabe, an den Parteitag, den Wahlkampf.
Baerbock – neuerdings Teil eines „Spitzenduos“ – hatte es zuvor konventioneller angegangen und eine Dreiviertelstunde geredet. Sie forderte Partei dazu auf, den Menschen Sicherheit zu geben. Die Grünen hätten immer für Veränderung gestanden. Mit Blick auf die vergangenen Jahre der Ampel-Koalition und den Bruch, sagte sie, das sei womöglich selbst für die Grünen ein „Ticken zu viel Veränderung“ gewesen. Man habe gelernt, dass Veränderung nicht nur schön sein kann, „dass sie uns bis ans Limit fordert“.
Mit Blick auf den Wahlkampf sagte die Außenministerin: „Unsere Verantwortung als progressive Partei ist jetzt vor allen Dingen, Sicherheit zu geben.“ Baerbock warnte, die „Feinde von Fortschritt und Freiheit“ spielten mit der Verunsicherung, der Sorge und der Angst der Menschen. Nun müsse man „unser starkes Land gerade in stürmischen Zeiten noch robuster zu machen, anstatt es täglich schlecht zu reden“. Sie sagte auch, ein „sozialer, starken Staat“ sei der beste Schutz gegen Angriffe von außen.
Baerbock leitete mit ihrer Rede die Debatte zur aktuellen Lage auf der 50. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen ein. Zuvor hatte sich Omid Nouripour von den Delegierten verabschiedet, am Samstag wird es Ricarda Lang machen. Die beiden Parteivorsitzenden hatten ihre Ämter knapp drei Jahre lang innegehabt und Ende September nach einer Serie verlorener Landtagswahlen ihren Verzicht auf eine abermalige Kandidatur erklärt.
Beide kandidieren für den Deutschen Bundestag, Lang in Backnang, Baden-Württemberg, Nouripour will sein Frankfurter Direktmandat verteidigen. Ihre designierten Nachfolger, Franziska Brantner und Felix Banaszak stellen sich am Samstag dem Votum der etwa 840 Delegierten des Wiesbadener Parteitages.
Zudem wollen die Delegierten über Anträge zur unter anderem zur Reichensteuer, und zur Migrationspolitik diskutieren wollen. Kontroverse Debatten werden erwartet, noch bis in dien Freitag hinein gab es Versuche, zahlreiche Änderungsanträge dazu abzustimmen. Baerbock verteidigte Kompromisse bei der Migrationspolitik in den vergangenen Monaten in der Koalition und sagte mit Blick auf die Migration, man müsse sich nicht nur für Humanität einsetzen, sondern auch für Ordnung. Man sei überzeugt, dass beides auf Engste zusammengehöre.
„Robert Habeck hat das Zeug zu einem guten Bundeskanzler“
Am Sonntag soll Habeck als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl nominiert werden. In einem am Donnerstag veröffentlichten Dringlichkeitsantrag zu seiner Kandidatur wird er freilich nicht einmal als Spitzenkandidat bezeichnet, sondern als „Kandidat für die Menschen in Deutschland“. Immerhin steht da: „Robert Habeck hat das Zeug zu einem guten Bundeskanzler.“
Er soll zwar seine herausgehobene Rolle behalten, aber im „Spitzenduo“ mit Baerbock auftreten. Damit wird die herausgehobene Rolle der zwei wichtigsten Grünen dann auch formal noch einmal unterstrichen. Nouripour sprach bei seinem Abschied von den „beiden Gesichtern“ der Partei.
In bundesweiten Umfragen liegen die Grünen derzeit zwischen zehn und zwölf Prozent. Immerhin sind seit dem Bruch der Ampel-Koalition laut Bundesgeschäftsstelle gut 9000 neue Mitgliedsanträge eingegangen, ohnehin ist die Partei mit knapp 140.000 Mitgliedern so groß wie noch nie. Auch 725.000 Euro sind als Spenden schon eingegangen für den Wahlkampf, teilte die scheidende Bundesgeschäftsführerin Emily Büning zur Eröffnung des Parteitages mit. „Der Wahlkampf wird hart und daher brauchen wir euch alle“, sagte sie. Wahrscheinlich Ende Januar müssen die Grünen auch schon den nächsten Parteitag abhalten, um das Wahlprogramm zu verabschieden.
Nach der Debatte am Freitagabend sollten die Delegierten für einen Antrag des Bundesvorstands stimmen, der schon eine Grundlage für das künftige Wahlprogramm legt. Darin wird der FDP die Verantwortung für den Bruch der Koalition zugewiesen und es werden Erfolge der Regierung aufgezählt (unter anderem der Ausbau erneuerbarer Energien, die Fachkräftezuwanderung und das 49-Euro-Ticket). Von Kompromissen an der „Schmerzgrenze“ in der Koalition wird auch gesprochen.
Spätestens die Wiederwahl von Donald Trump habe die „Verteidigungsfähigkeit und die Bereitschaft mehr in die Souveränität Europas zu investieren, an die Spitze der politischen Prioritäten für die kommenden Jahre“ gesetzt. „Die Zeitenwende im Militärischen, im Zivil- und Katastrophenschutz sowie bei der inneren Sicherheit muss fortgeführt und verstärkt werden“, heißt es in dem Antrag.
Baerbock warb in ihrer Rede dafür, der Ukraine weitreichende Waffensysteme zur Verfügung zu stellen – Bundeskanzler Olaf Scholz lehnt hingegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern ab. „Wir müssen die Ukraine schützen, weil es unser Frieden in Europa ist.“
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