Abschwung der Wirtschaft: Fünf Mythen über die Misere

Deutschlands Wirtschaft geht es nicht gut, das ist keine Frage. Darunter leiden einige Menschen, deren Arbeitsplatz in Gefahr ist. Darunter leiden viele, denen die Wirtschaft nicht das liefert, was eine funktionierende Wirtschaft leisten könnte: Sie finden keine Wohnung, warten lange auf einen Arzttermin und müssen bei Bahnfahrten mit langen Verspätungen rechnen. Alle Deutschen gemeinsam wiederum leiden darunter, dass die Preise im Land gestiegen sind und die schwache Wirtschaft wenig Steuern für den Staat abwirft. Hätte sich die Wirtschaft in den vergangenen Jahren so entwickelt wie 2019 vorhergesagt, nähme die Bundesregierung in diesem Jahr rund 40 Milliarden Euro mehr Steuern ein – das ist ungefähr der Betrag, den die Bundesregierung in diesem Jahr an neuen Krediten aufnimmt.

1. Mythos: Deutschland steckt in einer Konjunkturkrise

Trotzdem ist es falsch, die Misere als Konjunkturkrise zu beschreiben. Wer von Konjunktur spricht, meint damit meistens den einigermaßen regelmäßigen Wechsel zwischen guten und schlechten Jahren – die „Schwankungen im Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung“, wie das Wirtschaftsministerium selbst das Wort definiert. Doch die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands schwankt nicht. Deutschland kommt vielmehr seit fünf Jahren nicht vom Fleck. In der gleichen Zeit haben die meisten anderen europäischen Länder sich deutlich besser entwickelt, die USA noch viel mehr. „Die aktuellen Probleme sind strukturell“, sagt Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat Wirtschaft.

Diese strukturellen Probleme werden nicht in ein paar Monaten oder Jahren wieder von allein weggehen. Das fängt mit der Überalterung der Gesellschaft an. „Die demographische Entwicklung bringt eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und der wirtschaftlichen Dynamik“, sagt der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest.

Dazu kommen Entwicklungen auf dem Weltmarkt, der die Exportnation Deutschland lange getragen hat, insbesondere das sich verändernde Verhältnis zu China. „Das weltwirtschaftliche Umfeld hat sich gedreht“, sagt der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, Moritz Schularick. Deutschland hat in den vergangenen Monaten mehr nach Polen exportiert als nach China. Und der Wettbewerb wird härter. „Im Maschinenbau sind heute die Chinesen die Nummer eins“, sagt Schularick.

2. Mythos: Die Probleme begannen mit Putin

Während der Pandemie wurde Deutschland von seinen Nachbarn noch um die Stärke der Wirtschaft und um seine Finanzkraft beneidet. Als Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hatte, als Gas und in der Folge auch Strom in Deutschland teurer wurden, da begannen die Sorgen um die Wirtschaft. Doch die Ursachen sind älter, einige davon werden schon seit Jahren beklagt.

Die Zahl der Patentanmeldungen aus Deutschland sinkt zum Beispiel ungefähr seit 2018, egal ob man die Anmeldungen beim deutschen oder beim europäischen Patentamt ansieht. Die Zahl der produzierten Autos in Deutschland war 2017 auf ihrem Höhepunkt. Die energieintensive Industrie ist zwar erst seit dem Ukrainekrieg stark geschrumpft, vorher war sie aber ein Jahrzehnt lang nicht gewachsen. Und die Globalisierung wird schon seit zehn Jahren nicht mehr intensiver.

Andere Trends kennt Deutschland sogar seit Anfang der Zehnerjahre. Das war die Zeit nach der Finanzkrise, als dem Land allmählich klar wurde, dass die Massenarbeitslosigkeit der Nullerjahre tatsächlich Geschichte war. Ungefähr in jenen Jahren sank die Zahl an Firmengründungen in zwei Wellen.

Auch die Arbeitszeitwünsche der Deutschen bewegen sich seit dieser Zeit immer weiter nach unten. Damals geschah sogar die große Trendwende in deutschen Bildungsstudien: Ob PISA, IGLU oder TIMSS – Anfang der Zehnerjahre erreichten die Leistungen deutscher Schüler ihren Höhepunkt, seitdem sinken sie immer weiter.

Die Mieten steigen, die Gehälter leider nicht.
Die Mieten steigen, die Gehälter leider nicht.Picture Alliance

Im Land herrscht Wohnungsmangel, der die Wirtschaft ebenfalls zurückhält, weil er es den Deutschen erschwert, dorthin zu ziehen, wo sie für sich beruflich die besten Perspektiven sehen. Nach Jahren der Stagnation wurden die Mietsteigerungen erstmals auffällig im Jahr 2010.

Und dann ist da die Investitionsschwäche des Landes. Straßen, Schienen und Brücken – jahrelang lebte das Land von der Substanz. „Deutschland fehlt es an öffentlichen Investitionen“, sagt der Ökonom Jens Südekum, und mit dieser Analyse ist er nicht allein. Nie waren die öffentlichen Investitionen im wiedervereinigten Deutschland so gering wie in den Jahren 2005 bis 2015 (die Misere begann schon vor der Schuldenbremse). Nach 2015 stiegen die Investitionen wieder, aber die Defizite, die damals angelegt wurden, sind noch lange nicht ausgeglichen.

Ein Problem ist aber noch älter: die Produktivität. Wie viel Wert das Land in einer Stunde Arbeit erwirtschaftet – in dieser Disziplin hat sich Deutschland von den USA abhängen lassen, und zwar seit dem Jahr 2000. EZB-Direktorin Isabel Schnabel sprach in einem Vortrag von der „verpassten IT-Revolution“.

3. Mythos: Das E-Auto ist schuld an der Autokrise

Hätten die deutschen Autohersteller nur früher auf Elektromobilität gesetzt, dann würden sie jetzt mehr Autos verkaufen – so heißt es oft. Ganz so einfach ist es nicht, denn die ersten Zweifel beginnen schon damit, dass die Fabriken mit der schlechtesten Auslastung und dem größten Personalabbau in Deutschland oft gerade die E-Auto-Fabriken sind, deren Absatz sich nicht so schnell entwickelt wie erhofft. Umgekehrt liegt es auch nicht unbedingt am Verbrennerverbot. In China werden mehr Elektroautos verkauft, doch auch dort sind die deutschen E-Autos nicht sonderlich beliebt.

All das hat nur zu kleinen Teilen damit zu tun, ob die deutschen Autobauer die Antriebsart beherrschen. Auch da ließe sich zwar mit mehr Erfahrung mehr herausholen. Mindestens so wichtig ist aber, was die Autos sonst zu bieten haben. VW leidet bis heute darunter, dass seine Software für die Autos nicht richtig vom Fleck kam. Fertig entwickelte Modelle konnten erst mit jahrelanger Verspätung auf den Markt kommen, als sie schon nicht mehr taufrisch waren. Was deutsche Autos an Unterhaltung bieten, passt ebenfalls nicht zur Nachfrage auf anderen Erdteilen.

Neben der Batterietechnologie mache die Software bei E-Autos den Großteil der Wertschöpfung aus, sagt IfW-Präsident Moritz Schularick. „Da ist die deutsche Autoindustrie der Konkurrenz fünf Jahre hinterher. Wahrscheinlich haben wir das Rennen gegen die Chinesen zumindest im Massenmarkt schon längst verloren.“ Ganz ähnlich klang der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi in seinem Bericht zum Zustand der EU: „Die Automobilproduktion in der EU leidet unter höheren Kosten, rückständigen technologischen Fähigkeiten, zunehmender Abhängigkeit und schwindendem Markenwert.“

Diesen Rückstand aufzuholen, das versucht die Autoindustrie nun durch Zusammenarbeit mit den überlegenen chinesischen Anbietern. Doch das wiederum führt gleich zum nächsten Problem. Autos mit chinesischen Teilen oder chinesischer Software könnten in Zukunft auf dem ebenfalls wichtigen amerikanischen Markt Probleme bekommen, wenn Präsident Donald Trump den chinafeindlichen Kurs der US-Regierung noch einmal verschärft. Zölle drohen ihnen ohnehin schon auch für Fahrzeuge aus europäischer Produktion. So geraten die Autobauer auch in die Zwänge der Geopolitik.

Und dann ist da der Preis. Die Autos, die den deutschen Modellen den Rang ablaufen, sind teils Tausende Euro billiger. Wie man Autos billiger und schneller produziert, das müssen die Konzerne jetzt mit ihren Belegschaften verhandeln.

4. Mythos: Teure Energie ist das Hauptproblem

Dass Deutschland im internationalen Vergleich besonders hohe Energiepreise hat, wird immer wieder als Grund angeführt, warum Unternehmen lieber anderswo investieren. Es stimme zwar, dass die Strompreise in Deutschland „auf dem Papier“ hoch seien, sagt Moritz Schu­larick. „Wir haben aber gleichzeitig so viele Ausnahmen und Sonderregelungen, dass es schwer ist, überhaupt zu sagen, was der deutsche Industriestrompreis ist.“ Im Maschinenbau machen die Energiekosten ohnehin lediglich drei Prozent der Wertschöpfung aus. Schön sind hohe Stromkosten für diese Unternehmen nicht, aber sie sind auch nicht entscheidend für das Geschäftsmodell. Die wirklich energieintensiven Branchen, für die die Kosten eine größere Rolle spielen, machen nur drei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung aus. Die Energiepreise allein können also kaum erklären, warum gerade die gesamte deutsche Wirtschaft stagniert.

In Teilen des Landes ist das Problem sogar eher, dass der Strom zu billig ist. Weil Deutschland einen landesweit einheitlichen Strompreis hat, werde im Norden Strom aus Skandinavien importiert, der nicht gebraucht werde, sagt die Energieexpertin Veronika Grimm. Im Süden dagegen sorgten Stromexporte, die nicht realisiert werden könnten, für unnötige Kosten. Dies müsse vom Netzbetreiber teuer korrigiert werden. In Süddeutschland müssten die Preise eigentlich höher sein, weil der Bedarf der Industrie groß ist, die meisten Windräder aber im Norden stehen. Grimm sagt:. „Diese Regeln erzeugen unglaubliche Fehlanreize, die man dann mit viel Staatsgeld ausgleichen muss.“

5. Mythos: Dem Land droht Massenarbeitslosigkeit

Die Schwäche der Industrie schwächt auch den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenzahlen sind gestiegen, statt 2,2 Millionen suchen jetzt rund 2,8 Millionen Menschen eine Stelle. Andere finden zwar neue Arbeit, verdienen dort aber nicht mehr so viel wie früher. Angesichts der Schwäche der deutschen Wirtschaft darf dieser Anstieg allerdings trotzdem als ziemlich verhalten gelten. Die öffentliche Hand und staatsnahe Betriebe wie Krankenhäuser stellen immer mehr Menschen ein. Heute arbeiten in Deutschland so viele Menschen wie nie zuvor.

Jobmessen sollen die Suche nach ausreichend neuen Arbeitskräften fördern. 
Jobmessen sollen die Suche nach ausreichend neuen Arbeitskräften fördern. dpa

Und es zeichnet sich ab, dass es bald schon wieder in vielen Branchen an Arbeitskräften fehlen wird. Denn in den Jahren 2025 bis 2030 werden mehr als fünf Millionen Deutsche in Rente gehen, so ergibt es sich aus einer Rechnung des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Diese Lücke lässt sich weder mit den vergleichsweise wenigen Berufseinsteigern vollständig schließen noch mit Technik. Auch die Migration kann bisher die Lücke nicht füllen.

Darin sieht Ökonom Moritz Schularick zumindest einen Lichtblick. „Wenn uns eines bei dem Strukturwandel helfen wird, der uns bevorsteht, dann dass wir ihn in einer Zeit durchmachen, in der mehr oder weniger Vollbeschäftigung herrscht.“ Deutschland könne jetzt nachholen, was die Amerikaner während der Pandemie erlebt haben. Viele Leute verloren zwar kurzfristig ihre Arbeitsplätze, anders als in Deutschland, das diese Entwicklung damals mit dem Kurzarbeitergeld verhinderte. Diese Leute fanden dann aber schnell neue Jobs in produktiveren Wachstumssektoren. Die amerikanische Wirtschaft bekam mehr Dynamik, und die Arbeitslosigkeit fiel schnell wieder.

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