Britta Ernst begleitet ihren Ehemann, Bundeskanzler Olaf Scholz, immer mal wieder auf längeren Reisen. Am Sonntagmittag stieg sie mit ihm zusammen in den Regierungsflieger in Richtung Rio de Janeiro zum G-20-Gipfel. Aber diesmal wurde der gemeinsame Abflug auch in der SPD-Fraktion genau registriert. Denn, so formuliert es ein Abgeordneter: Nur im vertrauten Gespräch mit seiner Frau könnte Scholz noch zu der Überzeugung gelangen, nicht noch einmal als Kanzlerkandidat für die SPD anzutreten. Und die Kandidatur an Verteidigungsminister Boris Pistorius übergeben, den beliebtesten Sozialdemokraten des Landes.
Ist das eine realistische Option? Vor dem Abflug hatte Scholz gesagt: „Ich und die SPD sind bereit, in diese Auseinandersetzung zu ziehen – übrigens mit dem Ziel, diese zu gewinnen.“ Das klingt nach einer eindeutigen Festlegung von Scholz auf sich selbst. Doch schafft es der Kanzler nicht mehr, Kraft seines Wortes eine längst schwelende Debatte über die eigene Person zu beenden. Viele SPD-Leute, sei es in der Fraktion oder an der Basis, sehen Scholz zunehmend kritisch. Bezweifeln, dass er die Partei bis Ende Februar aus dem 16-Prozent-Tief holen kann. Und selbst die, die ihn unterstützen, schieben Kritik hinterher. So sagt etwa der Bochumer Abgeordnete Axel Schäfer der F.A.Z.: „Olaf Scholz ist der fachlich beste Kanzler, der leider nicht am besten kommuniziert.“
Die Parteispitze bemüht sich, die Glut auszutreten. „Er ist unser Kanzler und unser Kanzlerkandidat“, sagte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken am Montagmorgen in der ARD. Esken hatte vor Jahren Scholz abgesprochen, ein standhafter Sozialdemokrat zu sein. Inzwischen findet man in der Bundesrepublik keinen größeren Scholz-Fan als Esken. Allerdings hat ihr Wort in diesen Fragen kein Gewicht in der Partei. Verteidigungsminister Boris Pistorius äußert sich loyal, ohne auszuschließen, im Fall der Fälle bereitzustehen, wenn er nur laut genug gerufen würde. „Wir haben einen Kanzlerkandidaten, der ist der jetzige Kanzler“, sagte Pistorius am Sonntag in der ARD. Er gehe davon aus, dass Scholz nominiert werde.
Die SPD-Spitze lässt einen Spalt offen
Die entscheidenden beiden Personen sind nun der Parteichef Lars Klingbeil und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Beide sind loyal zu Scholz, beide spüren die Schmerzen der schlechten Umfragen und Persönlichkeitswerte für den Kanzler. Hinzu dürften persönliche Überlegungen kommen. Klingbeil ist erst 46 Jahre alt. Er kann davon ausgehen, dass vieles in der SPD auf ihn zulaufen wird, ob früher oder später.
Mützenich wiederum hat erheblichen Einfluss auf die Debatten in der SPD. Es wäre für ihn ein Leichtes, die vereinzelte Kritik in der Bundestagsfraktion anzufeuern und eine Stimmung gegen Scholz zu erzeugen. Aber davon ist nicht auszugehen. Er wäre aber wohl derjenige, der im Falle noch schlechterer Umfragewerte auf Scholz zukommen müsste, um das erste, entscheidende Gespräch mit ihm zu führen. Mützenich ist nicht der Typ für einen Putsch, aber für klare Worte. Voraussetzung wäre dafür aber wohl auch, dass Scholz die Tür für Zweifel am eigenen Erfolg einen Spalt offenlässt.
Diesen Spalt lässt wiederum die SPD-Spitze offen, indem sie es bislang nicht für nötig hielt, im Parteivorstand einen Beschluss im Sinne von Scholz zu fassen. Esken erklärte dieses merkwürdige Vorgehen am Montag damit, dass so ein Beschluss „nicht unbedingt notwendig“ sei, weil „es so klar ist“. Der Vorstand werde sich von einer öffentlichen Debatte auch nicht drängen lassen. Nun ist vorgesehen, dass am Wochenende der Parteivorstand Nägel mit Köpfen macht.
In Maifeld wollen sie keine Scholz-Plakate aufhängen
Ob das die Debatte beendet, ist unklar. In Maifeld in Rheinland-Pfalz werden sie im Februar unabhängig vom Vorstandsbeschluss keine SPD-Plakate mit dem Gesicht von Bundeskanzler Olaf Scholz aufhängen. Das steht für Maximilian Mumm, den Ortsvereinsvorsitzenden der SPD und Bürgermeister, schon jetzt fest. „Wieso sollen wir im Wahlkampf Geld ausgeben für einen Kandidaten, an den wir nicht glauben und den wir nicht für fähig halten?“, fragt er. Bei einer Sitzung des Ortsvereins haben sie das schon vor dem Bruch der Koalition und der Ankündigung der Neuwahl beschlossen. Sie waren sich einig.
Mumm sagt: „Jeder in der SPD weiß, dass wir verlieren werden, wenn wir mit Scholz antreten.“ Einmal hat sich Mumm schon vernichtend zu Scholz im Fernsehen geäußert. Danach wurde ihm parteischädigendes Verhalten vorgeworfen. Mumm aber sagt: „Scholz macht die Partei kaputt, nicht ich.“
Was Mumm sehr deutlich sagt, äußern Kommunalpolitiker der SPD sowie Abgeordnete aus Landtagen und dem Bundestag zurückhaltender. Scholz habe so viel Vertrauen verspielt, das er nicht mehr zurückgewinnen könne, sagen die einen, dass er als Kanzler nicht vermittelbar sei. Gleichwohl glauben nur wenige daran, dass es zu einem Wechsel hin zu Boris Pistorius kommen könnte – schließlich müsste ihn der Bundeskanzler selbst einleiten.
Ein führender Sozialdemokrat aus Rheinland-Pfalz sagt, Scholz sei allzu selbstbewusst, beratungsresistent und ein „katastrophaler Kandidat“; er werde der SPD wahrscheinlich 15 Prozent bescheren. Namentlich zitieren lassen will auch er sich lieber nicht. Auch weil er nicht daran glaubt, den Lauf der Dinge noch aufhalten zu können. „Am Ende wird Scholz unser Kanzlerkandidat sein“, sagt er, wer dagegen aufbegehre, mache das eher „fürs Protokoll“. Insofern sei die laufende Auseinandersetzung „reines Bauerntheater“.
Bei den Jusos sind Scholz und Pistorius unbeliebt
Die Folge könnte ein schwieriger Wahlkampf werden. Denn sind die Genossen an der Basis nicht überzeugt, sind sie weniger engagiert beim Flyerverteilen, Plakatekleben oder im Gespräch am Stand vor dem Supermarkt. Das konnte man 2021 bei der CDU beobachten. Armin Laschet gelang es damals nicht, die Basis für den Wahlkampf zu begeistern.
Angesichts dessen, dass die Partei älter wird, wächst die Bedeutung der Jusos. Unter ihnen ist der Kanzler extrem unbeliebt. Sie ärgern sich über die Migrationspolitik, die aus ihrer Sicht gegen Grundsätze der SPD verstößt. Scholz und seine Berater sind sich dessen bewusst. Deshalb fand zwei Tage vor dem Bruch der Koalition ein Treffen im Willy-Brandt-Haus statt, bei dem Landes- und Bezirksvorsitzende der SPD-Jugendorganisation mit dem Kanzler in Austausch treten sollten.
Statt eines Austauschs auf Augenhöhe soll Scholz vor allem die Welt erklärt haben. Von oben herab habe er gewirkt, die Weltlage erklärt, schien dem Vernehmen nach desinteressiert daran, was die Parteijugend bewegt. „Er will uns als Wahlkämpfer, aber er tut nichts für uns“, sagt ein führender Juso aus dem Südwesten.
Anders als ihre Genossen in Maifeld in Rheinland-Pfalz würde sich Michelle Breustedt nicht verweigern, Wahlkampf für die SPD zu machen. Aber mit Leidenschaft werde sie nicht dabei sein, sagt die Bezirksvorsitzende der Jusos in Südhessen. So gehe es vielen jungen Parteifreunden. „Scholz ist der falsche Kanzlerkandidat“, sagt Breustedt. Wie andere Jusos sieht sie trotzdem keine Alternative. Pistorius wird als ebenso konservativ wahrgenommen. Für ihn wolle man sich nicht in die Bresche schlagen, sagt ein anderer Juso-Funktionär. Das ist ein Vorteil für Scholz. Breustedt sagt, die Partei und ihre Jugendorganisation steuerten auf ein Fiasko zu. „Wir haben es mit einer Demobilisierung der SPD zu tun“: Scholz an der Spitze, eine Partei, die sich nicht so recht dagegen wehrt und in eine mutmaßlich fatale Bundestagswahl steuert.
Türmer will sich nicht festlegen
Der Juso-Bundesvorsitzende spricht so offen nicht, aber auch er baut den Bundeskanzler nicht gerade auf. „Es gibt keine Selbstkrönung“, sagte Philipp Türmer am Montag im Deutschlandfunk. Dass Juso-Vorsitzende kritisch mit dem eigenen Kanzler sein müssen, weiß auch Scholz, der selbst mal stellvertretender Juso-Chef war. Aber den jungen Parteimitgliedern kommt in dem kurzen Winterwahlkampf eine wichtige Rolle zu. Sie bilden zu einem guten Teil die Fußtruppen des Kanzlerkandidaten. Sie stehen morgens auf und verteilen Flyer an Bahnhöfen, sind nachts zum Plakateaufhängen unterwegs.
„Zum jetzigen Zeitpunkt“ will sich Türmer noch nicht festlegen, ob er Scholz oder Pistorius bevorzugt. Das klingt so, als hätte man noch viel Zeit. Am Wochenende findet der Juso-Bundeskongress in Halle statt – ohne Scholz, aber mit anderer SPD-Prominenz. Das Wochenende könnte also zum Kräftemessen werden: in der einen Ecke der Parteivorstand, der sich auf Scholz festlegt, in der anderen der Parteinachwuchs, der das vermutlich nicht ganz so eindeutig sieht.
Als schlimmste Vorstellung geistert in der SPD, dass man sich zwar auf Scholz als Kandidaten festlegt, aber auf dem Parteitag am 11. Januar in Berlin, wo die endgültige Kür stattfinden soll, noch heftig diskutiert wird. Dann wäre die SPD offiziell in ein Scholz- und ein Pistorius-Lager gespalten.
Und noch etwas beginnt am Samstag: das Fotoshooting der SPD-Kandidaten im Willy-Brandt-Haus. Bis zum 1. Dezember sollen alle Kandidaten in selber Optik fotografiert werden. Auch der Kanzlerkandidat? Am 30. November findet in Berlin die sogenannte Wahlsiegerkonferenz statt, bei der die Kandidaten gefeiert werden sollen. In einer internen Präsentation der SPD für den Wahlkampf heißt es: „Wir bereiten Olaf eine große Bühne.“
Auf den 17 Folien der Präsentation heißt es, das Hauptpotential der SPD liege bei den Merz-skeptischen Unionswählern. 32 Prozent der Deutschen könnten sich nämlich vorstellen, bei der nächsten Bundestagswahl die Sozialdemokraten zu wählen. Als größte Kerngruppen hat man ältere, meist vernünftig abgesicherte Personen identifiziert, außerdem Frauen und „Merkel-Wähler“. Das Ziel sei eine Zuspitzung. „Am 23. Februar begleitet eine Frage alle Wähler*innen in die Wahlkabine: Olaf Scholz oder Friedrich Merz?“ Womöglich begleitet sie noch eine andere: warum nicht Boris Pistorius?
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