Die Veröffentlichung einer neuen russischen Nukleardoktrin durch den Kreml ändert nichts wesentliches. Für diesen Text gilt das gleiche wie für alle staatlichen Dokumente in Wladimir Putins Russland: Von Bedeutung ist nicht ihr Wortlaut, sondern ihre willkürliche Auslegung durch die Machthaber. Die neue Fassung der Nukleardoktrin sieht den Einsatz von Atomwaffen ebenso wie die vorhergehenden Versionen nur als letztes Mittel zur Selbstverteidigung vor.
Aber in der Realität betreibt Putin eine Politik, die in offenem Widerspruch zu dieser von ihm selbst unterzeichneten Bestimmung steht. Seit er während der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 die russischen Atomstreitkräfte in Bereitschaft versetzen ließ, spielt er mit der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen, um konventionelle militärische Aggressionen abzusichern.
Die Vorsicht des Westens bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine ist die – wohl begründete – Reaktion darauf. Dass der Kreml nun die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen etwas weiter fasst und ein kleines wenig schwammiger definiert, verändert die Bedrohungslage daher kaum.
Ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Erlaubnis Washingtons für die Ukraine, amerikanische Waffen für Angriffe tief im russischen Hinterland zu verwenden, und der Veröffentlichung der neuen russischen Nukleardoktrin ist denkbar. Nur wenige Stunden, bevor das Dokument am Dienstagvormittag auf der Website des Kremls erschien, hat die Ukraine mit einem Schlag auf ein Munitionsdepot bei Brjansk von dieser Möglichkeit erstmals Gebrauch gemacht. Aber der eigentliche Grund für die schon im Sommer angekündigte Überarbeitung der Doktrin waren nicht Maßnahmen des Westens, sondern der Wunsch des Kremls, auf Politik und Öffentlichkeit im Westen einzuwirken.
Moskau ist derzeit nicht am Dialog interessiert
Denn aus Moskauer Sicht entwickelt sich dort nicht erst seit dem Sieg Donald Trumps ein Momentum zu seinen Gunsten. Die weitere amerikanische Waffenhilfe für die Ukraine stand schon vor den Wahlen in Amerika in Frage. Und zugleich machen sich in vielen europäischen Staaten Müdigkeit und Unwille breit, Ukraine weiter entschieden zu unterstützen. Im Kalkül des russischen Regimes spielt Deutschland dabei als größtes EU-Land eine besondere Rolle. Die Wahlerfolge von kremlfreundlichen Parteien wie BSW und AfD werden in Moskau ebenso genau registriert, wie der Rückfall eines Teils der SPD in eine überkommene Friedensrhetorik. Berlin hat in den vergangenen Monaten mit der Kürzung der Mittel für die Ukraine im Bundeshaushalt und der kategorischen Weigerung, der Ukraine den Taurus zu liefern, fatale Signale in Richtung Moskau ausgesandt.
Das Telefonat von Bundeskanzler Olaf Scholz mit Wladimir Putin vorige Woche gehört in diese Reihe. Es wirkt wie ein Rückfall in die Zeit vor Überfall auf die Ukraine, als große Teile der deutschen Politik sich der Illusion hingaben, Gespräche mit der russischen Führung seien ein Wert an sich. Dabei ist es kein Argument gegen ein solches Gespräch, dass schon vorher klar war, dass es ohne Ergebnis bleiben würde. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Westen irgendwann wieder mit dem russischen Regime reden muss. Der Austausch bekannter Positionen kann ein Anfang für so etwas sein.
Aber Gespräche sind nur dann sinnvoll, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Das ist im Moment nicht der Fall. Putin hat in der jetzigen Situation an überhaupt kein Interesse an einem Dialog und demonstriert das auch – nicht grundlos hat er den Kanzler zuvor einmal abblitzen lassen. Einen Vorschlag der Türkei, den Krieg einzufrieren, hat der Kreml dieser Tag als „a priori unannehmbar“ zurückgewiesen. Das russische Regime sieht sich derzeit politisch und militärisch im Vorteil. Im Donbass machen seine Truppen gerade deutliche Gebietsgewinne und die Ukraine steht angesichts der Zerstörungen in ihrem Energienetz vor dem bisher schwierigsten Winter dieses Kriegs. Die Versuche des Westens, Russland international zu isolieren, hatten im globalen Süden keinen Erfolg.
Die Bedingungen für sinnvolle Gespräche mit der russischen Führung müssten die europäischen Regierungen selbst schaffen: durch mehr Unterstützung für die Ukraine und stärkere Anstrengungen für die eigene Verteidigung. Dem steht entgegen, dass nicht nur, aber in besonderem Maße in Deutschland, viele die Wirklichkeit noch immer nicht wahrhaben wollen: So lange in Russland oder das von Wladimir Putin geschaffene Regime – mit oder ohne ihn – an der Macht ist, wird es in Europa keinen stabilen Frieden geben. Möglich ist nur eine Eindämmung des Konflikts. Dazu braucht es auch Diplomatie. Aber ohne eine Demonstration der Stärke ist sie sinnlos.
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