Kriminelle Gangs überfallen im Gazastreifen immer häufiger Konvois von Hilfsorganisationen. Die Bewohner kaufen den Banden die Lebensmittel dennoch ab – denn die Not ist groß. Die Anarchie im Kriegsgebiet wächst zusehends.
Eine Demonstration Anfang der Woche in Khan Younis im Gazastreifen: Frauen, Männer und Kinder hielten selbstbeschriebene Kartons in die Höhe. Darauf stand übersetzt: Wir leiden, wir haben nichts zum Essen.
Ein älterer Mann redete sich in einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters in Rage: „Unser Volk braucht Nahrung. Es gibt keine Rechtfertigung für diesen brutalen Einsatz von Kontrollpunkten und Hilfslieferungen durch die Besatzung.“
Die Besatzung – damit ist das israelische Militär gemeint. Es bestimmt, welche Hilfsgüter in den Gazastreifen reinkommen. Doch auch dann ist nicht sichergestellt, dass die Waren – meist Nahrung, Wasser, Hygieneartikel und Kleidung – gerecht verteilt werden. Immer häufiger schlagen in dem Kriegsgebiet organisierte Banden zu. Sie überfallen die Konvois.
100 Lastwagen am Samstag geplündert
Zuletzt kam es am Samstag in großem Umfang zu einem Überfall, bestätigte Philippe Lazzarini, der Chef des Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA): „Mehr als 100 Lastwagen wurden geplündert. Das waren fast 90 Prozent des Konvois an diesem Tag. Wir haben schon vor langer Zeit vor dem völligen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung gewarnt.“ Bis vor vier oder fünf Monaten hätte es noch lokale Kräfte gegeben, die den Konvoi eskortierten, so Lazzarini. Diese seien nun völlig verschwunden.
Die Anarchie in Gaza wächst, und auch die Macht der kriminellen Banden dort. Anfangs war es der Zigarettenschmuggel, den die Banden fest im Griff hatten – nun sind es ganze LKW-Ladungen, die geplündert werden. Die Waren selbst werden an die notleidenden Menschen vergleichsweise billig verkauft. Ein einträgliches Geschäftsmodell: Indem die gestohlenen Waren billiger verkauft werden als auf Märkten, sichern sich die Gangs ihren Gewinn.
„Wir sind gezwungen, ihnen die Sachen abzukaufen“
Diyaa Al-Nasar aus Khan Younis macht im Gespräch mit Reuters deutlich, dass er aufgrund der katastrophalen Lage keine andere Wahl hat. „Wir sind alle gegen Banditen und Plünderer. Aber wir sind gezwungen, ihnen die Sachen abzukaufen.“ Ihm widerstrebe der Kauf zwar, doch ein Sack koste so nur 50 Euro, die Hälfte des normalen Preises. „Ich kann keine 100 Euro für einen Sack Mehl bezahlen.“
Lange hatte das israelische Militär behauptet, hinter den Überfällen auf die Hilfskonvois stecke die Hamas. Inzwischen weiß man, dass es kriminelle Banden sind, die von mächtigen Familienclans aus dem Süden Gazas kontrolliert werden.
Die Frage ist: Was unternimmt das israelische Militär, um die Ausbreitung der Gangs zu verhindern? Die Washington Post zitierte in einem kürzlich erschienen Artikel ein internes Papier der Vereinten Nationen. Darin heißt es, dass die Banden „möglicherweise von einem passiven, wenn nicht sogar aktiven Wohlwollen“ oder sogar „Schutz“ durch die israelischen Verteidigungskräfte profitierten.
Militärbehörde weist israelische Verantwortung zurück
Das ARD-Studio Tel Aviv konfrontierte am Wochenende Shimon Friedman, den Sprecher von COGAT, der Militärbehörde für zivile Angelegenheiten der Palästinenser, mit den Plünderungen im Gazastreifen. Er weist eine israelische Verantwortung zurück. „Die Verteilung liegt in der Verantwortung der internationalen Organisationen. Das bedeutet aber nicht, dass wir völlig ignorieren, was danach passiert.“
Plünderungen seien ein Problem, erklärte Friedman. Deshalb versuche COGAT, den Hilfsorganisationen zusätzliche Routen zur Verfügung zu stellen. Das geschah auch am vergangenen Samstag. Doch die Banden hatten auch die neue Route ausgekundschaftet.
Anarchie im Gazastreifen
Wie hoch der Grad an Anarchie im Gazastreifen inzwischen ist, zeigt sich auch daran, dass es in der Folge zu heftigen Kämpfen zwischen Plünderern und bewaffneten Hamas-Mitgliedern kam. Dies haben Nachrichtenagenturen zufolge mehrere Augenzeugen berichtet. Die Hamas-Mitglieder, die dem Innenministerium der Terrororganisation unterstellt sind, gingen in mehreren Städten massiv gegen die Mitglieder der kriminellen Banden vor.
Es gab bei den Auseinandersetzungen Tote und Verletzte. Augenzeugen berichteten ferner, dass die israelische Armee nicht eingegriffen habe, während bewaffnete Hamas-Mitglieder mit Motorrädern durch die Straßen fuhren.
Das israelische Militär hat sich konkret zu dem Vorfall nicht geäußert. In einer Erklärung hieß es nur, die Armee arbeite weiter daran, den Transfer von Hilfsgütern zu erleichtern.
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