Trainer Alonso in Leverkusen: Mit König Xabi in eine neue Ära?

Irgendwann inmitten der Feierlichkeiten, mit denen all die anderen Leute draußen in der Arena beschäftigt waren, begab sich Xabi Alonso auf eine kleine Reise in die Vergangenheit. „Es ist meine erste Station als Coach“, sagte der Meistertrainer von Bayer Leverkusen, seine Haare und sein T-Shirt waren nass von dem Bier, das einige Spieler über ihm ausgeleert hatten. Er fror.

Mitarbeiter drängten, er solle doch jetzt rausgehen, wo die Mannschaft und die Fans warteten. Aber der Trainer blieb und erzählte. „Das vergangene Jahr hat mir sehr geholfen, ich kam in einer schwierigen Situation“, erinnerte er sich an den Abstiegskampf, mit dem er zu Beginn seiner Zeit als Bundesligatrainer im Herbst 2022 konfrontiert war.

Dass er gerade in diesem Moment des Glücks von solchen Erinnerungen heimgesucht wurde, war erstaunlich, aber der 42 Jahre alte Baske wollte die Gelegenheit nutzten, um ein paar Einblicke in die Ordnung seiner Fußballwelt zu geben, in der es nicht immer um den nächsten Schritt nach oben geht.

Alonso hat die Zeit, die Bayern nicht hat

Wichtiger sind ihm Erfahrungen und Entwicklungen, die ihn nicht unbedingt auf der Karriereleiter, dafür aber auf seinem Lebensweg weiterbringen. „Wir wollen mehr“, sagte er und meinte damit zuallererst die beiden weiteren Titelchancen im DFB-Pokalfinale gegen Kaiserslautern sowie in der Europa League. Aber es war klar, dass er auch im kommenden Jahr mehr will. Vielleicht nicht unbedingt mehr Erfolg, so vermessen ist er nicht. Dafür aber mehr Reife, mehr Wissen. Der große Profiteur wird Bayer Leverkusen sein.

Ein Champions League-Spiel fehlt ihm beispielsweise noch in seiner Trainerkarriere, er habe in Leverkusen „ein gutes Gefühl als junger Trainer“, sagte er bereits Ende März, als er bekannt gab, dass er trotz verschiedener Wechselmöglichkeiten zu ruhmreicheren Vereinen im Rheinland bleiben werde.

Weil auch Leute wie Granit Xhaka und Florian Wirtz bleiben, kann Bayer 04 auch 2025 der Gewinn der deutschen Meisterschaft zugetraut werden. So weit mochte im Moment des Triumphes, als die Glückshormone strömten und das Bier floss, niemand in die Zukunft schauen, aber Alonsos Beschreibungen bieten nicht zuletzt den Angehörigen des FC Bayern einen guten Anlass zur Nachdenklichkeit.

Denn der spanische Trainer nimmt sich die Zeit, die den Bayern fehlt in ihrem Erneuerungsprozess, in dessen Verlauf nun schon im zweiten Jahr keine richtigen Fortschritte erkennbar sind. Alonso will lieber weiter lernen. Als Spieler hat er zwar fast alles erlebt, als Trainer begreift er sich aber noch als Anfänger. Es sei „etwas total anderes, einen Titel als Coach zu gewinnen“, sagte er am Sonntag. „Die Energie, die man braucht, ist vollkommen anders. Man kann das nicht vergleichen. Dieses Jahr war viel intensiver.“

Es hat sich eine Verbindung zwischen Trainer und Mannschaft entwickelt, die Alonso nicht einfach aufgeben will, um beispielsweise mit irgendeinem zwar teureren und womöglich auch begabteren aber eben nicht von ihm selbst entwickelten Kader weiterzumachen. In Leverkusen kickt er beim Training oft selber mit, er mag seine Spieler, hat auch ein gutes Verhältnis zu denen, die seltener zum Einsatz kommen. „Ich will viel mit der Mannschaft sprechen, ich weiß, was die Spieler fühlen. Und diese Verbindung und die Empathie zu spüren, das ist wichtig“, erwiderte er auf die Frage nach seiner auch altersbedingten Nähe zu den Fußballern.

Rechte Zeit, rechter Ort

Offenkundig ist hier ein großes Trainertalent zur richtigen Zeit am richtigen Ort, genau wie etliche Leverkusener Profis. Und diese Konstellation dürfte auch eine enorme Anziehungskraft auf begehrte Talente haben. Ein 21-Jähriger, der nicht zuerst auf das Einkommen schaut und Angebote aus Leverkusen, Dortmund, München oder vielleicht sogar Manchester United hat, wird viele Argumente für einen Wechsel zum so fabelhaft spielenden neuen Meister finden. Nicht zuletzt, weil es ziemlich spannend sein muss, unter Alonso zu arbeiten.

All das nährt den Zukunftsoptimismus der Leverkusener, wo manchmal bereits Parallelen zu Jürgen Klopp und seiner Dortmunder Zeit mit den beiden Meistertiteln 2011 und 2012 gezogen werden. Wobei dieser Vergleich hinkt. Der BVB hat sich in den Titeljahren noch steigern können, sammelte zunächst 75 Punkte und im Jahr danach 81. Leverkusen hat schon jetzt – bei noch fünf ausstehenden Partien – 79 Zähler gesammelt. Es ist kaum vorstellbar, dass der Klub sich im kommenden Jahr noch einmal verbessert. Und doch wird von diesem Titel nicht nur die endgültige Überwindung des „Vizekusen“-Fluches bleiben.

Es gibt kein Halten mehr: Torschütze Florian Wirtz mahnt jubelnd zur Ordnung.
Es gibt kein Halten mehr: Torschütze Florian Wirtz mahnt jubelnd zur Ordnung.Firo

Der Verein, seine Mannschaft und seine Fans haben sich verändert. Die Stimmung während der Spiele ist seit Monaten so intensiv wie nie zuvor, innerhalb von eineinhalb Jahren ist die Zahl der Mitglieder von 20.000 auf über 50.000 gestiegen. Und wenn Florian Wirtz irgendwann den Klub wechselt, ist mit einer Transfereinnahme von deutlich über 100 Millionen Euro zu rechnen – Geld das sich auf die Substanz des Kaders auswirken wird. Nicht nur die Bayern müssen daher damit rechnen, dass Bayer 04 dauerhaft gefährlich bleibt.

„Soll man lachen? Soll man weinen?“

Nicht einmal eingefleischte Werksklub-Skeptiker können unberührt bleiben von der Freude, die am Sonntag hervorbrach. „Emotionen pur“, sagte Jonas Hofmann, „da fließt alles durch den Körper. Soll man lachen? Soll man weinen?“ Statt zum zwölften Mal sehr routinierte – ja vielleicht sogar etwas gelangweilte – Männer wie Thomas Müller, Manuel Neuer oder Leon Goretzka bei ihrem bayerisch eingefärbten Meisterritual zu betrachten, bot die Meisterschaft wieder einmal richtig große positive Gefühle.

Selbst ein Routinier wie Granit Xhaka gewann erstmals einen Titel außerhalb der Schweiz. Für jüngere wie den dreifachen Torschützen und designierten Weltstar Wirtz, für den in langen Phasen seiner Karriere unterschätzten Robert Andrich und für ewige „Vizekusen“-Gesichter wie Jonathan Tah oder Lukas Hradecky war das Erlebnis ohnehin neu. Genau wie die Fans waren sie erfüllt von einer emotionalen Energie, die der FC Bayern schon lange nicht mehr erzeugen kann.

In diesem Kontext nahm Alonso, für den Fußball eben kein Tagesgeschäft ist, sondern eine Frage großer Zeitabschnitte, gleich zu Beginn seiner Meister-Pressekonferenz eine interessante Einordnung vor: „Ich erinnere mich an Kollegen aus der Vergangenheit: Christoph Daum, Klaus Toppmöller, Roger Schmidt und viele mehr. Ich will das teilen mit vielen Leuten.“ Womöglich wird er tatsächlich als Trainer in die Geschichte dieses Klubs eingehen, dessen Werk nicht nur ein Trauma überwunden, sondern auch eine neue Ära begründet hat.

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