Im deutschen Fußball hat sich der Begriff „Kölner Keller“ längst etabliert und ist auch denen bekannt, die sich nicht jede Spielminute anschauen. Im unteren Teil des „Cologne Broadcasting Centre“ im Kölner Stadtteil Deutz befinden sich die Arbeitsplätze der Videoassistenten für die Bundesligapartien. Bei der Fußball-Europameisterschaft sitzen die Helfer der Schiedsrichter vor Monitoren, allerdings nicht in Köln-Deutz, sondern im „Football Tech Hub“ auf dem Leipziger Messegelände.
Dort sahen am Samstagabend Stuart Attwell als Video Assistent Referee (VAR) und seine Assistenten David Coote sowie Massimiliano Irrati das EM-Achtelfinale zwischen Deutschland und Dänemark, um das Team der Unparteiischen im 420 Kilometer entfernten Dortmunder Stadion zu unterstützen. Das war auch notwendig, denn Schiedsrichter Michael Oliver hatte kein leichtes Spiel zu leiten. Seine Entscheidungen beeinflussten das Ergebnis, 2:0 für Deutschland, maßgeblich.
Mehrmals kommunizierten der Schiedsrichter und die Assistenten vor den Monitoren und trafen ihre Entscheidungen, die schon während der Partie für kontroverse Diskussionen sorgten. Ein Überblick:
Falsch gedacht. Als die Deutschen sich noch freuen über die Führung, steht Oliver im Strafraum und möchte den Kapitänen Schmeichel und İlkay Gündoğan – nur sie sind nach einer neuen Regel berechtigt, mit dem Schiedsrichter auf dem Rasen zu reden – erklären, warum er das Tor nicht anerkennen möchte: Als Kroos anläuft, stellt sich Joshua Kimmich im Strafraum in den Weg von Schlotterbecks direktem Gegenspieler Andreas Skov Olsen. Der Deutsche trifft den Dänen bewusst mit der rechten Schulter. Skov Olsen geht zu Boden, Kimmich bleibt stehen, Schlotterbeck läuft weiter. Oliver bewertet den Block, wie man im Basketball sagen würde, als illegalen Einsatz. Der VAR bestätigt seine Ansicht.
Julian Nagelsmann hat dafür recht wenig Verständnis. „Ich glaube, dass wir eigentlich ein reguläres Tor schießen“, sagt der Bundestrainer nach dem Spiel. „Natürlich gibt es da einen kleinen Block, aber der wird immer gestellt – nicht so dramatisch, ehrlich gesagt.“ Das sieht das Schiedsrichter-Team anders.
35. Minute: Die Gewitterwarnung war bekannt. Nach gut einer halben Stunde wird aus dem Grollen ein lauter Donnerschlag. Blitze zucken über dem Stadion. Oliver macht das, was auch einige Spieler mit Gesten fordern: Es sei zu gefährlich, bei dem heftigen Gewitter unter freiem Himmel Fußball zu spielen. Die Mannschaften gehen in die Kabinen. Nach gut zwanzig Minuten, in denen die Lage mit Blitzen und Hagel sich erst zuspitzt, dann aber entspannt, kommen sie zurück. Nach einer kurzen Aufwärmphase geht es 25 Minuten nach der Unterbrechung mit einem Schiedsrichterball weiter.
Auch Hjulmand fordert die Unterbrechung, weil er schlechte Erfahrungen gemacht hat. „Ich hatte keine Angst, aber ich passe natürlich auf die Spieler auf. Ja, es stimmt, einer meiner Spieler wurde vom Blitz getroffen“, sagt er später und denkt an Jonathan Richter. Der frühere Spieler des FC Nordsjaelland wird 2009 im Training vom Blitz getroffen. Hjulmand war Ko-Trainer. Richter überlebt, sein linker Unterschenkel muss aber amputiert werden. „Der Blitz war direkt über dem Stadion“, sagt Hjulmand nun. „Ich habe gesehen, dass meine Spieler darauf reagiert haben, und ich denke, es war richtig, das Spiel zu stoppen.“
Polizeisprecher Peter Bandermann erklärt: „Eine Person gelangte um 22.27 Uhr während des Spiels auf das Dach des Stadions. Einsatzkräfte der Polizei näherten sich, um die Person anzusprechen und einen sicheren Rückweg vom Dach zu gewährleisten. Dafür leuchtete ein Hubschrauber der Polizei das Stadiondach aus.“ Kurz vor Mitternacht wird Entwarnung kommen: Der Mann sei festgenommen worden, heißt es, „zu keinem Zeitpunkt bestand eine Gefahr für andere Menschen“. Es handelt sich, teilt die Polizei in der Nacht mit, um einen 21 Jahre alten Mann aus Osnabrück. Zu seinem Motiv kann sie vorerst keine Angaben machen. Auch wie er auf das Dach gekommen ist, ist unklar. Nach dem Signal des UEFA-Mitarbeiters geht das Spiel mit kurzer Verzögerung dann aber doch weiter.
Doch wieder meldet sich Leipzig bei Oliver, diesmal geht es um eine mögliche Abseitsposition. Nach der Flanke Höjbjergs sind auch noch die Dänen Andreas Christensen und Höjlund am Ball, ehe der zu Delaney gelangt. Da kommt die halbautomatische Abseitstechnik zum Einsatz. Sie ermittelt durch Kameras den Zeitpunkt der maßgeblichen Ballberührung und anhand von 29 Körperstellen die exakte Position eines jeden Spielers. Daraus entsteht ohne menschliche Hilfe ein 3-D-Bild der Szene.
Und die zeigt: Delaney steht bei der letzten dänischen Ballberührung im Abseits – allerdings nur mit der Fußspitze. Das ist insofern eine korrekte Entscheidung, weil mit der Fußspitze ein reguläres Tor erzielt werden kann. Doch gibt es nicht den Spruch: „Im Zweifel für den Angreifer“? In Zeiten der technischen Überprüfung ist das ein Satz fürs Museum.
Dänemarks Trainer regt sich fürchterlich auf und sagt zur Entscheidung, das Tor nicht anzuerkennen: „Das ist eine Schande. Wir reden über einen Zentimeter. Kann das wirklich die zweifelsfreie Wahrheit sein?“, fragt er rhetorisch im ZDF. Dabei wendet Hjulmand seinen eigenen Videobeweis an: Er zeigt sein Handy mit der UEFA-Grafik, die auch im Fernsehen eingeblendet wird: „Ist die Technik so genau? Lässt sich der Zeitpunkt des Abspiels so genau bestimmen? Ich habe Fragen“, sagt er.
Bundestrainer Nagelsmann antwortet kühl: „Das berechnet ein Computer, deshalb ist es korrekt, auch wenn es skurril ist“, sagt er und meint, der VAR und die Technik machten „den Sport etwas fairer“.
Nach kurzer Ansicht kehrt er zurück auf den Rasen, formt mit seinen Fingern ein Viereck in der Luft und deutet mit der Hand auf den Elfmeterpunkt: Es gibt Strafstoß für Deutschland. Die Dänen verstehen die Fußballwelt nicht mehr. Kai Havertz läuft an und verwandelt zum 1:0.
Bei der Entscheidung kommt eine andere, recht neue Technik zum Einsatz, die ausschaut wie ein Elektrokardiogramm, kurz EKG. Das misst die elektrischen Aktivitäten aller Herzmuskelfasern. Die UEFA-Variante dagegen visualisiert die Berührungen des Balles mittels eines Sensors im Inneren. Eingeführt wurde die Technik bei der WM vor eineinhalb Jahren in Qatar.
Hjulmand tobt wieder: „Wir können nicht Fußball spielen, ohne die Arme zu bewegen, dazu die kurze Distanz. Das sind zwei lächerliche Entscheidungen, die entscheidend waren.“ Er habe „echt genug von dieser lächerlichen Handregel“, sagt Hjulmand. „Wir können nicht erwarten, dass unsere Verteidiger mit den Händen auf dem Rücken laufen. Er ist normal gelaufen.“ Nagelsmann sieht das etwas anders: „Ich kann verstehen, dass die Dänen sich aufregen. Aber die Regel ist so. Der Arm ist abgespreizt“, sagt er: „Wenn ich richtig aufgepasst habe in der Regelkunde vor der EM, war das ein Handspiel.“
Eine Abschaffung des VAR fordert Hjulmand nicht. „Nein, ich mag den VAR. Die Technologie ist gut für den Sport“, sagt er. „Wenn eine Entscheidung gut ist, sollte man das vom Mond aus sehen können, und es sollte nicht um ein paar Zentimeter gehen. Wenn es um ein paar Zentimeter geht, ist es etwas fraglich. Ich denke, dass es schneller gehen sollte. Es muss einen Weg geben, das zu verbessern.“
90.+1 Minute: Bei einem Konter rennt Havertz allein auf das dänische Tor zu, parallel ist Leroy Sané dabei. Er fordert den Ball, kommt dann aber, weil Christensen ihn trifft, im Strafraum zu Fall. Havertz fehlt nun die Option, den Mitspieler mit einem Querpass zu bedienen. Stattdessen chippt er den Ball knapp am Tor vorbei. Die Deutschen beschweren sich und wollen einen Elfmeter. Doch Oliver zeigt an: Ich habe auf Vorteil entschieden. Auch über diese Entscheidung lässt sich lange diskutieren. Es ist ein Abend, den viele so schnell nicht vergessen werden. Nicht zuletzt Michael Oliver.
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