Die Moderatorin nennt das „ein kleines, nein, ein Riesenbonbon“. Die Stimmung in der Parkanlage, durch die sich Kopfsteinpflasterstraßen mit herrschaftlichen, aber verfallenen Häusern winden, ist gelockert, beinahe aufgekratzt. An die anwesenden Wissenschaftler gerichtet, sagt Oberbürgermeister Octavian Ursu: „Sie sind alle herzlich willkommen. Wir hoffen, dass Sie noch mehr werden, und wir werden alles dafür tun, dass Sie bei uns bleiben. Wir brauchen Menschen, die hier leben und arbeiten.“ Ursu schließt mit den Worten: „Danke, dass Sie hier sind.“
Die Worte des Oberbürgermeisters und die leer stehenden Gründerzeitbauten in der Nachbarschaft zeigen es: Görlitz kämpft. Gegen Schrumpfung und für Menschen, die hierherziehen, vor allem, wenn es Fachkräfte sind wie die Wissenschaftler vom DZA. Das tun viele Gegenden, vor allem im Osten Deutschlands.
Doch Görlitz ist besonders von Schrumpfung betroffen – seit der Wende haben Stadt und Landkreis ein Drittel ihrer Bevölkerung verloren. Deshalb sind sie auch besonders kreativ, wenn es darum geht, gegen den Bevölkerungsschwund zu kämpfen.
Der Landkreis wirbt zusammen mit Unternehmen dafür, dass junge Leute nicht wegziehen, mit einem Projekt namens „Zukunftsmacher“. Mit einer weiteren Kampagne, „Unbezahlbarland“, wirbt er um Rückkehrer. Zwei Tage vor dem Termin in Görlitz wurde im nahe gelegenen Zittau ein „Welcome Center“ für Zuzügler und Einwanderer eröffnet. Die Stadt richtet sich mit auf Bierdeckeln gedruckten Sprüchen wie „Wir brauchen dich hier“ an Touristen und hat schon mehrmals Menschen zum kostenlosen Probewohnen nach Görlitz eingeladen, in der Hoffnung, dass sie bleiben.
Die Bedingungen sind alles andere als optimal. Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands, liegt am Rand von Sachsen, das schrumpft und altert. 366.000 Sachsen gehen in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand. Schon 2030 werden in Sachsen Prognosen zufolge zwischen 150.000 und 200.000 Arbeitskräfte fehlen. 2040 werden hier rund sechs Prozent weniger Menschen leben als heute, das Medianalter, also das Alter, das die Bevölkerung in eine ältere und eine jüngere Hälfte teilt, wird dann bei 50,3 Jahren liegen – gut drei Jahre höher als deutschlandweit. Im Landkreis Görlitz liegt es schon heute bei fast 54 Jahren, jeder Zehnte hier ist älter als 80, und der Landkreis wird Prognosen zufolge doppelt so stark schrumpfen wie Sachsen insgesamt.
Die Bevölkerung wächst dank Polen und Ukrainern
In der Stadt Görlitz aber ist die Bevölkerung zuletzt auf fast 57.000 gewachsen. Dem „Wegweiser Kommune“ der Bertelsmann-Stiftung zufolge wird Görlitz’ Einwohnerzahl bis 2040 nicht nur stabil bleiben, sondern sogar minimal zunehmen – das ist in ganz Sachsen sonst nur in Leipzig und Dresden der Fall. Wie hat die Stadt das geschafft?
Fragt man das Oberbürgermeister Ursu, erzählt er von einer blühenden Stadt, von all den Unternehmensansiedlungen: dem DZA, dem polnisch-deutschen Forschungszentrum Casus, den Niederlassungen großer Unternehmen wie Zeiss und Siemens. Er empfängt am Tag nach dem DZA-Termin in seinem Büro im Rathaus, einem großzügigen Raum mit Gewölbe-Stuckdecke. Rund um das DZA, ist Ursu überzeugt, werde es bald keinen Leerstand mehr geben, das ganze Viertel werde prosperieren. Görlitz stehe vor ganz anderen Herausforderungen als noch vor einigen Jahren. „Mit der Schrumpfung befassen wir uns nicht mehr.“ Ursu hofft, dass die Stadt zum Anziehungspunkt in der Region werden und den schrumpfenden Landkreis mitziehen wird.
Einige Stunden nach dem Interview eröffnet Ursu das Altstadtfest. Ein angenehmer Termin, denn das Fest ist der Höhepunkt eines jeden Jahrs in Görlitz. Menschenmassen drängen sich in der Abendsonne über den pittoresken Untermarkt. Das Jugendblasorchester zieht Swing spielend von hier zur Neiße, hinter der Zgorzelec liegt, der polnische Teil der Stadt. Ein gewaltiger Tross zieht hinterher, vorneweg der Oberbürgermeister und Ministerpräsident Michael Kretschmer, der hier seinen Wahlkreis hat und wie Ursu in der CDU ist. Auf der Altstadtbrücke angekommen, trifft Ursu seinen polnischen Amtskollegen Rafał Gronicz, gemeinsam eröffnen sie das Fest offiziell.
Versucht man herauszufinden, wie Görlitz es schafft, nicht zu schrumpfen, ist man hier der Antwort besonders nah. Rund 5000 Polen leben in der Stadt. Die Mieten sind hier oft niedriger als in Polen, die Heimat liegt gleich auf der anderen Seite des Flusses. Zusammen mit den rund 1400 aus der Ukraine geflüchteten Menschen, vorwiegend Frauen und Kinder, machen Polen und Ukrainer elf Prozent der Bevölkerung von Görlitz aus. Programme, die um Rückkehrer und Neubürger werben, haben hingegen einen vergleichsweise geringen Einfluss auf die Bevölkerungszahl. In einer Studie der Stadt zum Probewohnen heißt es etwa, es seien lediglich „einzelne Teilnehmende“ geblieben. Die Studie fand heraus, was den Probewohnern fehlte: eine gute Verkehrsanbindung, aber perspektivisch auch Ärzte, Kitaplätze, Schulen.
Ein nüchterner Blick auf die Zahlen zeigt, dass auch die Fachkräfte keine so große Rolle spielen, wie der Oberbürgermeister Glauben machen will. Das von ihm erwähnte Forschungsinstitut Casus hat gerade mal 100 Mitarbeiter. Das Zentrum für Astrophysik soll zwar mal mehr als 1000 Beschäftigte haben – aber erst im Jahr 2038 fertig sein. Außerdem ist das DZA an die Uni Dresden angegliedert, dort werden Mitarbeiter rekrutiert werden, und dort werden auch viele von ihnen wohl weiterhin leben, auch weil es für ihre Partner und Partnerinnen schwierig sein wird, Arbeit in Görlitz zu finden. Von der Grundlagenforschung am DZA wird die lokale Wirtschaft Fachleuten zufolge kaum profitieren. Und dass eine leicht wachsende Stadt von nicht einmal 60.000 Einwohnern die Bevölkerung in einem stark schrumpfenden Landkreis mit fast 250.000 Einwohnern stabilisieren könnte, wie der Oberbürgermeister hofft: Daran glauben Fachleute wie Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut ebenfalls nicht.
Die Geschichte von Görlitz als einer Stadt, die Fachkräfte aus aller Welt anzieht, bekommt bei genauerem Hinsehen also Risse. Woran es liegen könnte, dass die Fachkräfte nicht in Scharen kommen, lässt sich am Abend vor dem Altstadtfest beobachten. In einem Biergarten an der Neiße sitzt eine Gruppe Inder und Deutsche zusammen. Bei einem Hellen sprechen sie über die Herausforderungen, denen Ausländer wie sie in Görlitz begegnen.
Ein 35 Jahre alter Inder, der bei Siemens Energy arbeitet, findet keinen Zahnarzt in Görlitz. Und er will seinen indischen Führerschein in Deutschland anerkennen lassen. Die Dekra könne das Examen eigentlich auch auf Englisch abnehmen, aber sie behaupte, man brauche ein Deutsch-Niveau von B2 oder C1, erzählt er. „Ich bin seit einem Jahr hier und nicht mal bei A2!“, sagt er auf Englisch. Gaurav Garttan beruhigt ihn: „Alles braucht seine Zeit.“ Er wisse, dass die Dinge manchmal frustrierend seien – ihn frustriere gerade das Warten auf seine Niederlassungserlaubnis. „Aber wir arbeiten daran“, sagt Garttan. „Damit die Leute, die nach uns kommen, nicht dasselbe erleben.“
„Manche denken, dass Ausländer nicht arbeiten“
Zusammen mit einem deutschen Unternehmensberater hat Garttan, ein IT-Fachmann Anfang 30, den Stammtisch ins Leben gerufen. Nach dem Studium in Deutschland hatte er sich überall beworben – und nur in Görlitz, bei Zeiss Digital Innovation, etwas gefunden. Dafür ist er so dankbar, dass er der Stadt nun etwas zurückgeben möchte. Garttan spricht perfekt Deutsch und verwendet Formulierungen wie „unsere Stadt“, wenn er von Görlitz spricht. Um die Niederlassungserlaubnis bemüht er sich, da die es ermögliche, sich „noch mehr zu engagieren“. Gäbe es Garttan nicht bereits, müsste man ihn für eine Werbekampagne erfinden – sei es für Zeiss, für Görlitz oder für indische Fachkräfte.
Dem Landrat haben er und die anderen aus der Gruppe bereits einen zehnseitigen Forderungskatalog überreicht. Bis davon etwas umgesetzt wird, wollen sie zumindest dazu beitragen, dass sich künftige Fachkräfte aus dem Ausland willkommener fühlen in Görlitz. Dafür, so die Idee, wollen sie in zwei Tagen auf dem Platz vorm Theater mit Einheimischen ins Gespräch kommen. Eine Art Speeddating. „Und was sollen wir da machen?“, fragt eine Inderin Garttan. „Sei einfach du selbst“, antwortet der. „Manche haben das Vorurteil, dass Ausländer nicht arbeiten. Wenn sie dich fragen, was du hier machst, kannst du ihnen erzählen, was für einen Beitrag du leistest.“ Damit ist die Sprache auf das Thema gekommen, das natürlich im Raum schwebt, wenn sich eine Gruppe Inder in Ostsachsen trifft: Ausländerfeindlichkeit und Rassismus.
Görlitz ist eine Hochburg der AfD. Bei der Europawahl in diesem Jahr stimmten nirgendwo so viele Leute für die AfD, die in Sachsen als gesichert rechtsextrem eingestuft ist, wie im Landkreis Görlitz: 40,1 Prozent. Im Stadtrat haben AfD und die Freien Sachsen, die noch weiter rechts stehen, zusammen 39 Prozent der Sitze inne. Für Garttan und die anderen in dieser Runde ist Fremdenfeindlichkeit trotzdem kein zentrales Thema. Probleme mit der deutschen Bürokratie beschäftigen sie im Alltag mehr, sie werden anders wahrgenommen als Männer aus Syrien und Afghanistan. Und sie wollen nicht schlecht über Görlitz reden.
Das gilt auch für eine Studentin, die man auf dem Altstadtfest treffen kann: eine Zwanzigjährige in schwarzen Klamotten und mit goldenem Nasenring, die eifrig Fotos vom Treiben auf dem Untermarkt macht. Im Gespräch erzählt sie zuerst, wie positiv sich Görlitz entwickelt habe. Als ihre Eltern in den Neunzigern aus Polen nach Görlitz zogen, sei die Altstadt noch grau und unsaniert gewesen, Arbeit habe es kaum gegeben. Sie selbst habe eigentlich weggewollt nach dem Fachabi, sei dann aber für ein Studium an der Hochschule Zittau/Görlitz geblieben und bereue es nicht – auch wenn sie findet, dass Görlitz mehr junge Kultur guttun würde, ein Jugendtreff etwa oder ein Skatepark.
Die AfD gut zu finden, ist unter jungen Leuten „ganz normal“
Aber sie weiß auch genau, dass es ohne die Möglichkeit, hier zu studieren, noch viel weniger Jugendkultur gäbe. Deshalb wirbt sie für die Hochschule, wo sie nur kann, führt Interessenten und ihre Eltern über den Campus, hat beim Tag der offenen Tür Stände mitgestaltet. 3000 Leute sollen an der Hochschule studieren, so sieht es die Vereinbarung mit dem Freistaat vor. Derzeit sind es 2676. „Man kratzt halt immer an dieser Marke von 3000. Da muss man viel tun“, erzählt die Studentin. „Wem es an der Hochschule gefällt, der bleibt vielleicht auch zum Arbeiten.“ Der Kampf gegen die Schrumpfung, das zeigt sich im Gespräch mit ihr wieder einmal, wird in Görlitz nicht nur von der Politik geführt. Die Bevölkerung begreift ihn als ihr eigenes Projekt.
Doch kommt die Sprache auf die Landtagswahlen, wird die Studentin plötzlich stumm. Dann erzählt sie zögerlich, dass es unter jungen Leuten „ganz normal“ sei, AfD gut zu finden. Dass in der Stadt Gruppen unterwegs seien, die so aussähen wie die Rechtsextremisten und Neonazis, die neulich beim CSD in Bautzen aufmarschiert sind. In den letzten zwei, drei Jahren sehe sie immer mehr von ihnen in der Stadt. Sie selbst sei mit einigen von diesen Leuten zur Schule gegangen. Schon damals hätten sie im Unterricht den Hitlergruß gezeigt. Einmal hätten sie einen Mitschüler mit Migrationshintergrund geschlagen. Sie habe der Lehrerin davon erzählt – und sich danach monatelang ständig umgedreht auf dem Nachhauseweg, aus Angst, deshalb von ihnen angegriffen zu werden.
Auch bei den Montagsdemos, die aus den vermeintlichen Spaziergängen während der Pandemie hervorgegangen sind, seien immer mehr junge Leute dabei. Montags versuche sie immer, schon früh zu Hause zu sein. Aus Angst. Aus demselben Grund will sie auch nicht, dass ihr Name in diesem Artikel vorkommt.
Was würde sie einem jungen Menschen mit Migrationshintergrund sagen, der überlegt, an die Hochschule zu kommen? Die Studentin windet sich. Dann sagt sie: „Ich würde Leute immer motivieren, hierherzukommen. Nicht alle sind rechts. “
Und doch: Die politische Lage begegnet einem immer wieder als zentrales Motiv auf der Suche nach Gründen, warum nicht so viele Menschen nach Görlitz ziehen, wie die Stadt brauchte. Spricht man mit Menschen über ihre Sicht auf die Stadt, kommt die Sprache früher oder später auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
„Dann kocht doch alleine euer braunes Süppchen“
Da ist die Amerikanerin Tessa Enright, die zu ihrem deutschen Mann nach Görlitz gezogen ist. Auf Instagram postet sie unter dem Namen „discovergoerlitz“ traumhafte Stadtansichten mit dem Hashtag „Görliwood“ – in der prächtigen Gründerzeitaltstadt wurden viele Filme gedreht, unter anderem „Grand Budapest Hotel“. Enright, Ende 30, arbeitet selbständig als Übersetzerin, eine Stelle in Görlitz hat sie in den acht Jahren hier bisher nicht gefunden. Sie sagt, die Aufnahmen von Görlitz anzuschauen helfe ihr in schweren Momenten. Und von denen gebe es immer mal wieder welche in einer Stadt, in der die Menschen den Umgang mit Fremden nicht gewöhnt seien.
Da ist der Probewohner Steve Grundig, der in Görlitz geblieben ist und der sagt: „Für mich war es immer ein Argument zu bleiben, dass man die Gegend sonst den Falschen überlässt.“ Grundig, Mitte 30, der Unternehmen zu Nachhaltigkeit berät und für die Grünen in den Landtag will, ist sich da inzwischen nicht mehr so sicher. Sollte er sich irgendwann wirklich bedroht fühlen, würde er gehen. „Man muss sich nicht als Märtyrer zusammenschlagen lassen. Irgendwann kann man auch sagen: Dann kocht doch alleine euer braunes Süppchen. Dann kommen gar keine Fachkräfte mehr, weder nationale noch internationale.“
Da ist die Ukrainerin Viktoriia Sheliia, die nach dem Kriegsausbruch in ihrer Heimat nach Görlitz kam und die Menschen erst sehr freundlich fand – bis sie Deutsch lernte und verstand, was sie in der Straßenbahn redeten über Kriegsflüchtlinge wie sie. Freundlich fand sie auch die Betreuerin ihrer Kinder in der Kita, bis sie sie eines Tages bei den Demonstranten stehen sah, die jeden Montag mit Trommeln und Russlandfahnen durch Görlitz ziehen. Seither stürzt sich Sheliia, eine Psychologin Ende 30, noch mehr in ihre Arbeit mit traumatisierten Ukrainerinnen und ihren Kindern. Montags geht sie immer früh nach Hause und lässt die Rollläden runter, damit ihre Kinder keine Angst bekommen.
Und da ist der Rentner Joachim Trauboth, der vor zehn Jahren aus Münster für den Ruhestand mit seiner Frau nach Görlitz zog, weil er hier für eine 140 Quadratmeter große Wohnung mit zwei Bädern und zwei Balkonen 800 Euro Kaltmiete zahlt, und der sagt: „Wenn ich gewusst hätte, wie sich das politische Klima hier verändert und immer radikaler wird, hätte ich die Stadt gemieden, obwohl sie so schön ist.“ Trauboth engagiert sich zusammen mit Sheliia für die Ukrainerinnen in der Stadt und ist in der SPD. Für die Rechtsextremen macht ihn das zum Feindbild. Auf das Altstadtfest geht er deshalb nicht. „Da treibt sich viel von dem rechten Pack rum, und gerade wenn die getrunken haben, sind die aggressiv“, sagt er. „Das muss ich ja nicht provozieren.“
Gegen die Demographie ist schwer anzukommen
Am Tag nach der Eröffnung des Altstadtfests ist die Stadt wie ausgestorben. Das könnte an der Hitze liegen – oder daran, dass am Vorabend ein islamistischer Attentäter auf dem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer ermordet hat. Über die historische Steintreppe, die in Ursus Büro führt, gelangt man heute zu Ständen, an denen lokale Unternehmen für sich werben. Leute, die zum Fest zu Besuch in der Heimat sind, sollen hier spontan und ungezwungen einen Job finden und dauerhaft zurückkehren können. So die Theorie der Fachkräftebörse zum Altstadtfest.
Die Praxis sieht etwas anders aus: Nur wenige Menschen sind gekommen. Und diejenigen, die da sind, finden oft nichts Passendes. So etwa eine junge Frau, die sich dem Stand von Zeiss nähert, an dem Gaurav Garttan mit einer Kollegin steht. Sie wohnt in der Nähe und pendelt zur Arbeit immer nach Dresden. Doch in ihrem Bereich – Marketing und Kommunikation – hat Zeiss in Görlitz keine Stellen. Auch einem Pfleger, der seine körperlich und emotional aufreibende Arbeit gern gegen eine Stelle im Verkauf von Gesundheitsprodukten eintauschen würde, muss Garttan erklären, dass er nur Programmierer sucht. „Ah“, sagt der Mann, „das kann ich gar nicht.“ Sie geben sich trotzdem die Hand zum Abschied. Auch der Mann der Amerikanerin Tessa Enright sucht hier heute nach Personal für sein Sanitärunternehmen.
Die Fachkräftebörse zeigt abermals: Die Görlitzer tun viel dafür, dass ihre Stadt wächst, und auch die Politik gibt sich alle Mühe. Am Ende könnte ihr Einfluss aber begrenzt sein. Denn selbst wenn AfD und Freie Sachsen bei der Wahl unerwartet schlecht abschneiden sollten, bürokratische Hürden abgebaut würden, sich mehr Fachärzte in der Region ansiedeln und alle fünf Minuten ein Bus von Görlitz nach Dresden fahren würde, ist gegen einen Faktor schwer anzukommen: die Demographie.
Um die 5000 Kinder unter zehn Jahren leben in Görlitz, aber mehr als 12.000 Senioren, die über 71 Jahre alt sind. Daran wird sich auch künftig kaum etwas ändern; 2023 starben in der Stadt fast dreimal so viele Menschen, wie geboren wurden. Selbst wenn Görlitz noch viel mehr Ausländer anzieht als bisher und diese mehr Kinder bekommen als die deutsche Bevölkerung: Zeit und Demographie spielen gegen Görlitz.
Parallel zur Fachkräftebörse versuchen Garttans indische Bekannte zehn Gehminuten vom Rathaus entfernt, mit Görlitzern ins Gespräch zu kommen. Das scheitert daran, dass niemand unterwegs ist. Der Platz vorm Theater, an dem sie sich mit Luftballons aufgestellt haben, auf denen „Görlitz Calling“ steht, liegt menschenleer in der Hitze. Wohl auch, weil er sich etwas ungeschickt abseits der Wege zum Altstadtfest befindet. Das muss auch eine Gruppe vom DZA feststellen, die hier mit einem aufblasbaren „Urknalltunnel“ für sich wirbt und die heute für einen Film begleitet wird. Als das Fernsehteam zu filmen beginnt, stellen sich einige Inder in den Tunnel, damit er nicht so leer wirkt.
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