Netanjahus doppelter Tabubruch

Dass es Netanjahu nun nach so langer Zeit, da sein Verhältnis zu Verteidigungsminister und Parteikollegen Joav Galant schwer erschüttert war, wagt, diesen zu entlassen, zeugt von einem Ausmaß an Selbstsicherheit im Amt. Dieses hatte er seit dem Staatsversagen beim beispiellosen Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht mehr.

Und dass sich Netanjahu dafür ausgerechnet den Tag der US-Wahl „ausgesucht hat“, erweist sich im Nachhinein als eine letzte von mehreren Ohrfeigen, die Netanjahu dem US-Präsidenten Joe Biden im vergangenen Jahr versetzte. Dem gewählten US-Präsidenten Donald Trump, mit dem Netanjahu ein enges Verhältnis pflegt, dürfte das gefallen.

Höchstes Ziel: Koalition zusammenzuhalten

De facto war Netanjahu jedoch vor allem ein innenpolitisch Getriebener. Die Umstände – einmal mehr vor allem die Stimmung in der eigenen Koalition – drängten ihn zu handeln. Denn an Galant waren bisher alle Versuche gescheitert, den ultraorthodoxen Koalitionspartnern zu liefern, wovon sie den Erhalt der Regierung abhängig machen: ein Gesetz, das orthodoxen Männern endgültig und dauerhaft die Befreiung vom verpflichtenden jahrelangen Militärdienst garantiert. Alle bisherigen Regelungen wurden vom Obersten Gerichtshof als rechtswidrig aufgehoben.

Und in der jüdischen Bevölkerung Israels ist dieses Thema jenes, das – im Sinne einer gerechten Lastenteilung – am meisten spaltet: Denn die Ultraorthodoxen leisten keinen Militärdienst, sie zahlen – weil das Gros arm ist – wenig Steuern, erhalten aber einen stark überproportionalen Anteil an Sozialleistungen. Nur wenige Minuten, nachdem die Entlassung Galants Dienstagabend öffentlich geworden war, forderten die ultraorthodoxen Koalitionspartner, dass das Gesetz zur Befreiung vom Wehrdienst nun sofort beschlossen werden müsse.

Ablenkung von Skandal in eigenem Kabinett

Zugleich will Netanjahu von einem Skandal ablenken, der das Potenzial zu einem Flächenbrand hat: Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass gegen enge Mitarbeiter Netanjahus in dessen Kabinett ermittelt wird. Unter anderem sollen als geheim eingestufte Unterlagen der Armee und von den Geheimdiensten in die Hände von Mitarbeitern Netanjahus gelangt sein, die die dafür nötige Berechtigung (der Geheimdienst prüft alle Mitarbeiter und entscheidet darüber, Anm.) hatten.

Und diese Unterlagen wurden dann, so der Verdacht, an Medien weitergespielt – wobei sie vorher manipuliert worden sein sollen. Konkret soll das im August passiert sein, als Netanjahu erneut besonders unter dem Druck der Öffentlichkeit stand, nachdem sechs Geiseln in Gaza in Tunneln tot gefunden worden waren. Die weitergespielten Informationen sollten laut israelischen Medienberichten zur Entlastung Netanjahus dienen.

Warnendes Signal

Galants Entlassung dürfte in jenen Bereichen der Verwaltung, die von Netanjahu seit Jahren aus parteipolitischen Motiven stark unter Druck gesetzt werden, auch als Warnung verstanden werden. Das sind vor allem die – unabhängigen – Rechtsberaterinnen und -berater, die in jedem Ministerium jede Handlung auf Rechtskonformität prüfen und im Fall eines Verstoßes, etwa bei Personalentscheidungen, diese untersagen müssen. Die derzeitige Koalition ist hier besonders „auffällig“ – und Netanjahu sind die Rechtsberater daher ein Dorn im Auge.

Nicht zuletzt wird plangemäß Anfang Dezember der unterbrochene Korruptionsprozess gegen Netanjahu fortgesetzt – und seine Befragung steht an. Das will Netanjahu aber um jeden Preis verhindern, weshalb in den nächsten Wochen wohl mit – nochmals – intensivierten Angriffen auf die Justiz zu rechnen ist. Auch das ist übrigens ein Punkt, der Netanjahu und Trump verbindet.

Reaktion der Bevölkerung entscheidend

Den erfahrenen General Galant wollte Netanjahu bereits ein halbes Jahr vor dem Überfall der radikalislamischen Hamas entlassen, weil dieser sich – aus Sorge um die tiefen gesellschaftlichen Verwerfungen – gegen den umstrittenen Umbau der Justiz ausgesprochen hatte. Massenproteste im ganzen Land zwangen Netanjahu damals zu einem Rückzieher.

Netanjahu dürfte darauf setzen, dass es mitten im Krieg und aufgrund der damit einhergehenden Erschöpfung der Bevölkerung nicht zu solchen anhaltenden Massenprotesten kommen wird. Die Chefs der wichtigsten Oppositionsparteien riefen gemeinsam zu Massenprotesten auf. Doch die Opposition ist selten schwach und ohne charismatische Führung. Nur wenn die religiösen Zionisten, darunter viele Siedlerinnen und Siedler, auch in großer Zahl dagegen protestieren sollten, mitten im Krieg den Verteidigungsminister zu entlassen, könnte das Netanjahu unter Druck bringen. Sie sind eine Kernwählergruppe seiner Likud-Partei und seiner Rechtsaußen-Partner.

Noch weniger Hoffnung für Geiseln

Für die Angehörigen der Geiseln, die noch immer in Gaza festgehalten werden, schwindet damit die ohnehin geringe Hoffnung, ihre Liebsten frei zu bekommen, weiter rapide. Galant hatte erst zuletzt Netanjahu wieder kritisiert und betont, es brauche mehr Anstrengungen, die Geiseln zu retten. Kritiker werfen dem Regierungschef seit Langem vor, dass er den Tod der letzten Geiseln in Kauf nimmt – und sei es nur, um des Friedens in der Koalition willen.

Entscheidung mit Bumerangpotenzial

Für Erstaunen und scharfe Kritik in Israel sorgt aber mindestens ebenso sehr, dass der in militärischen Dingen unerfahrene bisherige Außenminister Israel Katz General Galant ablöst. Aber Katz ist ein stets treuer Verbündeter Netanjahus, der in Umfragen mittlerweile wieder ähnlich stark ist wie vor dem Hamas-Überfall.

Dabei gilt: Ein unerfahrener Verteidigungsminister wäre in dem von Terrororganisationen und dem Todfeind Iran bedrohten Israel schon in Friedenszeiten eine politisch schwer vertretbare Personalie. Angesichts des andauernden Mehrfrontenkrieges und eines drohenden weiteren Angriffs des Iran könnte diese Entscheidung aber für den rechtspopulistischen Regierungschef sehr schnell auch zu einer schweren Hypothek werden.

Der geschasste Minister Galant kündigte übrigens an, in Netanjahus Partei Likud zu bleiben. Er könnte dort nächstes oder spätestens übernächstes Jahr in den Likud-Vorwahlen die interne Opposition gegen Netanjahu organisieren.

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