Jagd auf Israelis: Was geschah in Amsterdam wirklich?

In nur drei Stunden hat sich Amsterdam in der Nacht von Donnerstag auf Freitag vergangener Woche verändert. In diesen drei Stunden sind zwei Dinge gleichzeitig passiert: Einmal griffen propaläs­tinensische junge Männer ab etwa Mitternacht in vielen verschiedenen Orten der Stadt Israelis und israelische Fußballfans von Maccabi Tel Aviv an. Sie verfolgten sie, bedrohten sie, schlugen, prügelten und traten sie, sie fuhren mindestens eine Person mit dem Auto an. Einige verlangten, unter Androhung von Gewalt, den Pass zu sehen, andere nahmen den israe­lischen Pass als Trophäe und posteten ihn in sozialen Netzwerken.

Manchmal brüllten sie ihre Opfer antisemitisch als „Kanker Joden“ (Krebsjuden) an oder sprachen von einer „Jodenjacht“ (Judenjagd). Und das alles auf offener Straße. Die Szenen wurden teilweise auf Videos aufgezeichnet und verbreiteten sich schnell in den sozialen Medien. Man sah verängstigte Gesichter und auf dem Boden gekrümmte Körper – und mächtige Gestalten, die über ihnen standen und sie misshandelten. Es kursiert auch ein Video, in dem Männer draußen an die Scheiben eines Hauses klopfen, in dem sich anscheinend Israelis in Sicherheit gebracht haben.

Außerdem wurde in diesen drei Stunden über die Deutung dieser Ereignisse entschieden: dass ein Pogrom in Amsterdam geschehen sei. Es war der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Danny Danon, der um knapp drei Uhr nachts Amsterdamer Zeit diesen Begriff benutzte, als er auf der Plattform X schrieb: „Wir erhalten sehr verstörende Berichte über extreme Gewalt gegen Israelis und Juden auf Hollands Straßen. Es findet derzeit ein Pogrom in Europa im Jahr 2024 statt.“

Er postete ein Video, allerdings nicht aus der Nacht, sondern vom Tag, in der ein Mann von einer Gruppe Männer auf Amsterdams Straßen verfolgt und mit Peitschen oder Stöcken geschlagen wird. Man hört einen der Angreifer rufen „Fuck Israel“. Ein Täter trägt eine palästinensische Flagge auf dem Rücken, ein anderer eine Art Militäruniform mit den palästinensischen Farben an der Schulter. Danon schloss den Post mit den Worten: „Die niederländischen Behörden müssen nun entschieden gegen den Terrorismus vorgehen.“

Netanjahu ruft nachts bei Amsterdams Bürgermeisterin an

Die Amsterdamer Behörden waren zu diesem Zeitpunkt allerdings noch zu ei­ner anderen Einschätzung der Lage gekommen. Sie sprachen von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen propalästinensischen Gruppen und israelischen Fans, ohne zu sagen, von welcher Seite die Gewalt ausging. Es waren zwar ab 1.30 Uhr einige Meldungen bei der Polizei eingegangen von Israelis in Hotels, die verängstigt waren, weil große Gruppen von Menschen an der Tür auf sie warteten.

Die Polizei, so heißt es einige Tage später in einem 12-seitigen Bericht der Bürgermeisterin Femke Halsema, sei allen Hinweisen nachgegangen, „fand aber wenige bis gar keine Menschen, die drohend vor der Tür standen“. Gegen kurz vor drei Uhr nachts, so das Papier weiter, rief der israelische Botschafter die Bürgermeisterin an und sagte, dass in Israel „große Wut“ herrsche und israelische Politiker in die Niederlande kommen werden. Halsema wurde nun klar, dass die Ereignisse „internationale Folgen“ haben. Kurze Zeit später beschloss Benjamin Netanjahu, der israelische Ministerpräsident einer Koalition aus Nationalkonservativen, Ultrareligiösen und Rechtsextremen, zwei Flugzeuge nach Amsterdam zu schicken, um seine Bürger in Sicherheit zu bringen.

Am Freitag war Europa dann ein anderes geworden. Die Gewalt in Amsterdam war nun „antisemitisch“. Es war der 8. November, ein Tag vor der Reichspogromnacht, in der 1938 Hunderte Juden in Deutschland ermordet worden waren, Synagogen brannten, jüdische Ge­schäfte geplündert und zerstört worden waren. Und genau darauf bezog sich nun Netanjahu: „Morgen vor 86 Jahren war die Kristallnacht, als Juden auf europäischem Boden angegriffen wurden, weil sie Juden waren. Dies hat sich nun wiederholt.“

Polizisten in Amsterdam eskortieren Fans vom Fußballclub Maccabi Tel Aviv in Richtung Stadion. Propalästinensische Demonstranten sind in der Nähe.
Polizisten in Amsterdam eskortieren Fans vom Fußballclub Maccabi Tel Aviv in Richtung Stadion. Propalästinensische Demonstranten sind in der Nähe.AP

Der niederländische Ministerpräsident Dick Schoff schrieb auf X, es handele sich um „völlig inakzeptable an­tisemitische Angriffe auf Israelis“. Bundeskanzler Olaf Scholz schrieb: „Juden und Jüdinnen müssen sich in Europa sicher fühlen.“ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, „An­tisemitismus hat in Europa keinen Platz.“ Joe Biden erinnerten die Angriffe von Amsterdam „an dunkle Momente in der Geschichte, als Juden verfolgt wurden“. Und der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, schrieb, es sei ein „schreckliches Pogrom gegen Juden und Israelis“, und nannte als Grund für die vielen Übergriffe in Europa: „einfach, weil sie Juden sind“.

Auch in den Medien ging es vor allem darum, wie die Gegenwart an die Vergangenheit der Juden erinnerte. Es ging um die Pogromnacht, um Anne Frank aus Amsterdam, um das Versagen der Niederlande im Zweiten Weltkrieg, weil sie die Juden nicht genug geschützt hätten. Es ging um Scham und Schuld und Bekenntnis.

Die Amsterdamer Gegenwart im November 2024 wurde so aber nicht vollständig abgebildet, es gab in der deutschen Öffentlichkeit zwei blinde Flecken: Es wurde anfangs beinahe nichts über die Gewalt berichtet, die israelische Fußballfans in Amsterdam verübt hatten; dabei gab es auch von ihr Videos. Und es wurde wenig darüber berichtet, wie politisch die israelischen Hooligans in Amsterdam auftraten. Beides taugt nicht als Entschuldigung für die Taten, die dann folgten. Aber es gehört zu einem redlichen Bericht.

Hooligans von Maccabi Tel Aviv griffen Taxis an

Die Behörden der Stadt machten sich am Donnerstagmorgen, vor dem Fußballspiel zwischen Maccabi Tel Aviv und Ajax Amsterdam, vor allem wegen der israelischen Fußball-Hooligans Sorgen. In der Nacht zuvor war es schon zu Zwischenfällen gekommen mit Fans beider Fußballklubs, und auch mit Anhängern des türkischen Klubs Fenerbahçe. Gegen Mitternacht zogen, wie aus dem Bericht der Bürgermeisterin hervorgeht, etwa 50 Maccabi-Hooligans durch die Innenstadt, einige waren vermummt. Sie verbrannten eine Palästinaflagge, rissen eine andere von einer Häuserwand, einige riefen „Fuck you, Palestine“.

Manche nahmen nun ih­re Gürtel ab und griffen damit ein Taxi an, das entkommen konnte. Viele andere Taxis in der Innenstadt wurden zerstört. In Amsterdam leben sehr viele Marok­kaner, und viele fahren Taxi. Sie mobilisierten nun und trafen sich vor dem Holland-Casino, wo sich etwa 400 Maccabi-Fans aufhielten. Die Polizei griff ein, brachte die Israelis mit Bussen in ihre Hotels zurück, in Sicherheit.

Maccabi-Tel-Aviv-Hooligans waren schon im März bei einem Spiel in Athen aufgefallen, weil sie einen Mann zusammengeschlagen hatten, der eine Palästinaflagge trug. Sie sind jung, gut organisiert, und viele haben kürzlich in der Armee gedient, manche wohl sogar in Gaza gekämpft. Und sie singen menschenverachtende, gewaltverherrlichende Lieder. Etwa das „Vergewaltigungs-Lied“, ein Hasslied gegen den Erzfeind, den eher linken Fußballklub Hapoel Tel Aviv. Teile des Textes lauten: „Ihr seid die Huren der Araber, wir schämen uns für euch“, „Wir werden euch töten, und dann werden wir euer Blut trinken“ , „auf dem Marktplatz werden wir jeden Kommunisten hängen, der hierherkommt. Wir nehmen eure Frauen, die gern Party machen, und werden sie vergewaltigen“.

Fans von Maccabi Tel Aviv in Amsterdam. Der Screenshot stammt aus einem Video, in dem zu hören ist, wie sie Profanitäten grölen.
Fans von Maccabi Tel Aviv in Amsterdam. Der Screenshot stammt aus einem Video, in dem zu hören ist, wie sie Profanitäten grölen.Reuters

In Amsterdam sangen die Maccabi-Hooligans allerdings etwas anderes. Am Donnerstag, dem Tag des Fußballspiels, versammelten sie sich mittags auf dem Dam-Platz, Innenstadt, mit Pyrotechnik und schwerem Feuerwerk, schrien abermals „Fuck you, Palestine“ und grölten ein Lied: „Lass die IDF (Armee) gewinnen/Wir werden die Araber töten/Olé olé/Olé olé olé/Warum gibt es heute keine Schule in Gaza?/Dort sind keine Kinder mehr.“ Manche zeigten Transparente mit israelischen Kriegshelden.

Abends verließen die Maccabi-Fans den Platz und gingen ins Stadion, außerhalb der Innenstadt. Aber die Behörden merkten, dass es bei den propalästinen­sischen Gruppen brodelte. Schon mittwochs wurde in sozialen Medien darüber geredet, dass es am kommenden Tag zum „zweiten Teil der Judenjagd“ kommen solle, wie der britische „Telegraph“ berichtete, und wieder schreiben Chat­teilnehmer von „Kanker Joden“. Donnerstags verschärfte sich der Ton noch, die an­tisemitischen Begriffe häuften sich. Im Be­richt der Bürgermeisterin heißt es, es gab immer mehr Meldungen, die „die Bereitschaft zeigten, gegen die Maccabi-Fans vorzugehen.“ Auch die Taxifahrer waren am Donnerstag wieder alarmiert und standen miteinander in Verbindung.

Das Fußballspiel begann, im Stadion war es ruhig, aber draußen in den Straßen der Innenstadt versammelten sich viele propalästinensische Gruppen. Es waren keine Ajax-Hooligans, also Hooligans der gegnerischen Mannschaft, sondern junge, wütende Männer, schwarz vermummt, wie die Hooligans von Maccabi Tel Aviv, äußerlich oft nicht zu unterscheiden. Viele hatten Migrationshintergrund. Das Fußballspiel lief friedlich ab – abgesehen davon, dass eine Schweigeminute für die Opfer der spanischen Flutkatastrophe durch die Maccabi-Ultras nicht respektiert worden war. Um 23 Uhr war das Stadion leer, die Maccabi-Anhänger nahmen die Bahnen in die Stadt. Die Hooligans, die Ultras, aber auch die vielen, vielen ganz normalen israelischen Fans, Familien mit ihren Kindern.

„Die Situation eskaliert jetzt“

Zu diesem Zeitpunkt stand ein junger niederländischer Youtuber, gerade 16 Jah­re alt geworden, mit einem Ka­meramann vor dem Hauptbahnhof und kommentierte, was er sah. Er nennt sich Bender, heißt eigentlich Benjamin Julius Pearson, mutig und eloquent filmte er nun eine Gruppe Maccabi-Anhänger. Etwa 50 bis 100 Leute, schwarz gekleidet. Sie liefen langsam eine Straße entlang. Plötzlich aber entfernten sie Eisenstangen aus dem Baugerüst des Park Plaza Victoria Hotels und setzen Masken auf. Und dann rannten sie. „Okay, sie rennen jetzt Leuten hinterher“, sagt Bender aufgeregt. „Die Situation eskaliert jetzt. Sie schmeißen die Eisenstangen auf Leute und die Polizeiwagen!“

Es ist genau die Szene, die später in fast allen deutschen Medien gezeigt wird – vermummte Männer rennen über eine Kreuzung und verfolgen jemanden. Aber es heißt, es seien propalästinensische Gewalttäter. Es ver­gehen mehrere Tage, bis manche Medien auf den Widerspruch der Fotografin Annet de Graf, die die Bilder gemacht hat, eingehen, sich entschuldigen und die Bildunterschrift ändern. Bei der „Bild“- Zeitung ist bis heute zu lesen: „Juden­hasser jagten in der Nacht auf Freitag israelische Fußballfans durch Amsterdam . . .“.

Bender verfolgte die Gruppe weiter. Einige der Maccabi-Hooligans griffen sich nun Holzleisten aus einem herum­liegenden Lattenrost. Auf den Straßen ringsherum hupten die Taxifahrer, aber sie kamen nicht näher. Die Polizei war dabei und eskortierte den bewaffneten Trupp. Einmal kam ein Maccabi-Anhänger auf Bender zu, sagte ihm, er solle aufhören zu filmen, „zu deiner eigenen Sicherheit“. Machte Bender aber nicht.

Die Maccabi-Hooligans griffen nicht wahllos an

Er blieb dran und erzählte, was ihm auffiel: Im Gegensatz zu den propalästinensichen Gruppen blieben die Maccabi-Hooligans „eng zusammen, sie sind eine kompakte Gruppe, sie teilen sich nicht auf, sie rennen nicht viel, aber wenn sie rennen, dann rennen sie zusammen.“ Die Hoo­ligans holten nun apfelsinengroße Steine aus der Straße und warfen sie auf die Taxis. Irgendwann kesselte die Polizei sie ein. Ein Teil der Männer stieg in einen Bus, den die Polizei bereitstellte, und fuhr ins Hotel – die Bürgermeisterin schrieb später in ihrem Bericht: „Busse wurden gerufen, um die Fans in Sicherheit zu bringen“. Ein anderer Teil der Männer aber wehrte sich, schmiss wieder Steine auf Taxis und rannte laut Bender weg.

Auch einige Bewohner Amsterdams hatten Angst vor den Hooligans. Eine Frau berichtete auf X: „Gestern Abend war die Gruppe israelischer Hooligans unter meinem Fenster (Palästina-Plakate). Sie haben gesungen, gegen die Haustür geschlagen, Feuerwerk gezündet. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Angst in meinem eigenen Haus – dass sich diese Tür öffnen würde, dass ein Stein oder ein Feuerwerk durch das Fenster geschossen würde.“

Aber ihr passierte nichts. Die Maccabi-Hooligans randalierten und suchten Streit mit Taxifahrern – aber sie griffen nicht wahllos Leute an. Ganz anders die propalästinensischen Gewalttäter: Ab etwa Mitternacht machten sie Jagd auf Israelis. Sie waren kein fester Trupp, sie waren überall gleichzeitig. Sie wollten keine bestimmten Menschen treffen, es ging ihnen um wahllose Gewalt an einer ganzen Gruppe. Immer wieder drängen sie ihre Opfer, „Free Palestine“ zu rufen, oder brüllen sie an: „Willst du Kinder töten, Kinder, Kinder, Kinder?“

Bis heute ist nicht klar, wie viele Menschen verletzt wurden, die Amsterdamer Behörden sprachen von 20 bis 30 Maccabi-Fans. Fünf Menschen mussten für einige Stunden im Krankenhaus behandelt werden – aber ob diese Menschen aus Israel stammen, wurde nicht gesagt, obwohl es in vielen Medien so dargestellt wird. Die Amsterdamer Polizei wollte sich auf mehr­fache Nachfrage der F.A.S. nicht dazu äußern.

Einer der Herausgeber der israelischen Zeitung „Haaretz“, Gideon Levy, hat am vergangenen Sonntag einen viel beach­teten Kommentar zu den Ereig­nissen in Amsterdam geschrieben: „Warum hassen sie uns so sehr?“, fragte er. „Nein, es ist nicht deshalb, weil wir Juden sind.“ Den Versuch, alles auf Antisemitismus zu schieben, hält er für „lächerlich und verlogen“. Levy glaubt vielmehr, dass ein „antiisraelischer Wind wehte“. Die Nord­afrikaner, Araber und Holländer würden seit einem Jahr täglich den „Horror von Gaza“ verfolgen, und „sie wollen nicht länger still sein.“

Und er schließt seinen Kommentar mit Worten, die er an die israelische Regierung richtet: „Auch das sind Kosten für den Krieg, die ihr Euch hättet überlegen müssen: Die Welt wird uns dafür hassen. Jeder Israeli wird von jetzt an im Ausland ein Ziel sein für Hass und Gewalt. Das passiert, wenn man beinahe 20.000 Kinder tötet, ethnische Säuberungen durchführt und den Gazastreifen zerstört. Das ist eine kleine Marotte der Welt: Sie mag diejenigen nicht, die solche Verbrechen begehen.“

Das war eine Deutung, die viel Verständnis zeigte für den Hass arabisch-stämmiger Holländer, aber auch übersah, mit welchem Zorn die israelischen Hooligans aufgetreten waren und warum. Auch ihr Hass wurde womöglich von Menschen verursacht, die keine Rücksicht auf Menschenleben nahmen. Es war also auch nicht die ganze Geschichte. Auf die kommt es aber an.

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