Zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten ist eine Bundesregierung zerbrochen, aber es gibt kein Innehalten der Beteiligten, kein Reflektieren, kein Abtreten. Olaf Scholz ist nicht der einzige Gescheiterte, der mit scheinbar ungebrochenem Selbstbewusstsein auf Wahlkampf umgeschaltet hat und davon ausgeht, dass ihn die Bürger für die Leistung der vergangenen drei Jahre belohnen müssen. Er werde in den kommenden 14 Wochen die (derzeit doppelt so starke) Union überrunden und abermals Regierungschef werden, sagte der Nochkanzler voraus. Sein entlassener Finanzminister kündigte an, die Wählerbasis seiner FDP von vier auf mindestens zehn Prozent zu steigern und ebenfalls in sein Amt zurückzukehren. Der grüne Nochwirtschaftsminister wiederum, dessen Partei an vierter Stelle rangiert, bietet den verblüfften Bürgern an, sie in ihren Küchen zu besuchen und ihnen natürlich weiterhin aus Berlin zu dienen – „wenn Sie wollen, auch als Kanzler“.
Was ist da los? Haben die drei verpasst, wie die Nation ihre Arbeit bewertet? Nahmen sie nicht zur Kenntnis, dass vor dem Bruch 85 Prozent der Deutschen keine durchdachten Konzepte mehr erkennen konnten, und nach dem Bruch nur ein Drittel Bedauern zeigte?
Gelächter über die „Erfolge“ der Regierung
Führungslos treibt das Land durch multiple Krisen, aber der gescheiterte Bundeskanzler glaubt, es sei Zeit für ein Selbstlob. Er sei froh, dass er Verantwortung getragen habe, weil „wir besonnen und vernünftig in einer gefährlichen Lage gehandelt haben“, brüstete er sich am Mittwoch im Bundestag. Gemeint war der Ukrainekrieg. Als er den Abgeordneten auch noch erläuterte, was er aus dem Ampel-Aus für seine nächste Koalition gelernt habe, dass nämlich „öffentlicher Streit nie wieder die Erfolge der Regierung überlagern“ dürfe, brach Gelächter aus. Wie sonst hätten die Zuhörer auf diese Manifestation politischer Entrücktheit reagieren können?
Die Antwort des Oppositionsführers auf die wohl letzte Regierungserklärung dieses Bundeskanzlers wirkte beinahe fassungslos. Scholz lebe in seinem eigenen Kosmos, sagte Friedrich Merz. Christian Lindner berichtete, er habe mit dem Kanzler im Kabinett „nicht mehr über dasselbe Land gesprochen“.
Jetzt will Scholz mit seinem Weltbild auf Stimmenfang gehen. Bei jeder Gelegenheit formuliert er einen Satz, der noch oft zu hören sein wird: Die SPD werde den sozialen Zusammenhalt nicht gegen die äußere Sicherheit „ausspielen“. Darin steckt die Unterstellung, andere wollten für die Aufrüstung der Bundeswehr und die Hilfen für Kiew die Renten kürzen und den Bedürftigen ans Leder. Dabei gibt man in CDU und FDP nur zu bedenken, das Deutschland nicht über den Nöten anderer Nationen schwebt, dass nirgendwo auf der Welt alles auf einmal geht, dass neue Prioritäten naturgemäß ältere verdrängen.
Niemals werde es mit ihm „ein Entweder-oder“ geben, schmetterte Scholz im Bundestag. Aber bedeutet Politik nicht vor allem, Entscheidungen zu treffen, und zwar entweder diese oder jene? Simuliert da nicht jemand Scheinsicherheit, wenn er behauptet, Haushaltskonflikte ließen sich immer in einem harmonischen Sowohl-als-auch auflösen? Scholz’ wohliges Credo, das am Ende die FDP aus der Koalition getrieben hat, lautet: Die Nation kann selbst unter stark veränderten Vorzeichen weitermachen wie bisher – sie muss nur noch mehr Schulden aufnehmen. Wie nebenbei erklärt sich so, warum die ausgerufene Zeitenwende zu großen Teilen Deklamation geblieben ist. Eine Wende, die niemand merkt und niemanden schmerzt, ist keine.
Hinter der Suggestion, ein politischer Erfolgskurs sei tragisch durchkreuzt worden, schimmert noch einmal die Hybris der alten Mitte durch. Es ist der wohl letzte Versuch, sich dem Untergang des Berliner Konsenses entgegenzustemmen, den Scholz länger, vielleicht auch typischer verkörpert hat als Bundeskanzlerin Angela Merkel: dass Deutschland ein starkes, fast unverletzbares Land ist, das alles verdauen kann und nichts grundsätzlich infrage stellen muss.
Vor allem Schwund
Das zu behaupten war schon in den Jahren bis zum Ukrainekrieg verwegen gewesen; seither erscheint es fahrlässig. Während Scholz klagte, dass Deutschland mutwillig schlechtgeredet werde, dass es keinen Grund für Zukunftsängste gebe, solange man sich nur mit Respekt begegne, ja dass sogar ein neues Wirtschaftswunder durch die Ampelpolitik ins Haus stehe, nahmen die Bürger vor allem Schwund wahr: Schwund des allgemeinen Lebensstandards, Schwund der inneren und äußeren Sicherheit, Schwund der Wettbewerbsfähigkeit, Schwund des deutschen Ansehens im Ausland.
Scholz, der sich gern als über den Tag hinausdenkender (und -lesender) Stratege präsentierte, ließ das Neue nicht wirklich an sich heran. Die Bürgergespräche, die er führte, mochten seine Ohren erreichen, seine Politik erreichten sie nicht. Schon in seinem programmatisch gemeinten Buch, das vier Jahre vor seinem Amtsantritt erschien, mangelte es an Verständnis für die Verschiebungen in der Welt und auch in der eigenen Gesellschaft. Den Korridor, in dem sich Scholz Politik vorstellen kann, lässt er sich von niemandem verrücken, auch nicht von einer aus den Fugen geratenen Welt. Unbeirrbar bleibt er dem Denken der Merkel-Zeit verhaftet, auch weil er es selbst mitgeprägt hat, und weicht davon nur ab, wenn er gezwungen wird. Das geschah, als Putins Angriff auf die Ukraine die fehlgeleitete Außen-, Verteidigungs-, und Russlandpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte offenlegte. Und es geschah, als die Stimmung gegenüber der Massenmigration so sehr kippte, dass sich dem Thema selbst Sozialdemokraten (und Grüne) nicht mehr entziehen konnten. Auf beiden Feldern blieb Scholz’ Umsteuern halbherzig und matt. In keinem übernahm er deutsche, geschweige denn europäische Führung.
Bis hinein in seine Personalpolitik spiegelte sich Scholz’ Weigerung, besonderen Zeiten mit besonderen Maßnahmen zu begegnen. Statt die fähigsten Köpfe in sein Kabinett des „Fortschritts“ zu berufen, richtete er sich, wie in den sorglosen Jahren, nach Quoten und Proporzen. Christine Lambrecht war ein Ergebnis, Svenja Schulze ein anderes. Dass Scholz die Koalition nicht führte, mag man noch mit der Fragilität des Dreierbündnisses erklären. Dass er dem Land in einer Phase elementarer Umbrüche keine Orientierung gab, war sein größeres Versagen.
Nun treibt die ungelöste Metafrage aus der Ampelkoalition einer Entscheidung durch die Wähler zu: Lassen sich die Strukturkrisen des Landes mit einem schuldeninjizierten Weiter-so lösen, oder müssen für die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit, der Wirtschaftsdynamik und der Migrationssteuerung die Prioritäten grundsätzlich neu geordnet werden? Lässt sich das deutsche Modell der vergangenen Jahrzehnte fortschreiben, oder muss es reformiert werden? Scholz plädiert, nun mit der Vehemenz eines Born-again-Sozis, für Ersteres und erhofft sich davon ein stimmträchtiges Alleinstellungsmerkmal.
Es ist seine letzte Hoffnung. Die andere kam ihm abhanden. Geplant war, sich nach einer Legislaturperiode vor allem gegen Merz zu positionieren. Der Insider mit der reichen Regierungserfahrung wollte sich abheben vom Außenseiter aus der sinistren Finanzbranche, der nie ein Ministerium geführt hat. Doch seine Regierungserfahrung kann Scholz nun nicht mehr in Anschlag bringen; sie ist, spätestens nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres, zum Malus geworden.
Selten zuvor hat sich ein Kanzler in seiner Amtszeit derart entblättert. Vor seiner Vereidigung galt er als safe pair of hands , als erprobter und gewiefter Profi der Apparate. Aber unter dem Druck des schwierigen Amtes und des früh auseinanderstrebenden Dreierbündnisses unterliefen ihm handwerkliche Fehler: Haushalte wurden derart frisiert, dass das Verfassungsgericht einschreiten musste, zusammengeschusterte Kabinettsbeschlüsse lagen schon Tage später in Fetzen. Vor seiner Amtsübernahme sah man in Scholz einen No-nonsense-Hanseaten, die Fleisch gewordene Antithese zum Populismus. Aber seine Sprache als Regierungschef war oft hohl (das Land nach vorn bringen, die Zukunft gewinnen) oder infantil (Doppel-Wumms, Wachstumsturbo), und ohne jede Scham bedient er sich der gängigen Populistenphrase, die anderen würden „das Land spalten“.
Trittunsicherheit
Was bleibt von dieser Amtszeit? Womit kann Scholz noch hausieren gehen? Er sei „cooler“ in staatspolitischen Belangen als sein Unionskonkurrent, sagte er kurz nach dem Koalitionsbruch. Vermutlich meinte er damit, dass er in der Ukrainepolitik unaufgeregt blieb und gegen alle Widerstände Kurs hielt. Aber Coolness lässt sich nicht reklamieren, sie wird einem bescheinigt. Nichts ist uncooler, als sich für cool zu erklären. Es ist auch diese Trittunsicherheit, die manchmal irritierende Selbstwahrnehmung, die Scholz im Wahlkampf behindern könnte.
Wenn es eine staatspolitische Aufgabe von Rang gibt, dann den würdevollen demokratischen Übergang, und bei diesem verlor Scholz erkennbar die Nerven. Kleinlich trat er nach und warf seinem Finanzminister parteipolitische Taktiererei und sachfremde Einwände vor. Ohne Gespür für republikanischen Stil versuchte Scholz, die Vertrauensfrage hinauszuziehen, und musste sich dem Protest aus Politik und Gesellschaft beugen. Am Ende entschieden die Fraktionschefs für ihn, und das Ergebnis kann ihm nicht gefallen: Die Abgeordneten werden seine Vertrauensfrage nicht, wie er es wollte, im Januar beantworten, sondern am 16. Dezember. Daraus ergibt sich – die Zustimmung des Bundespräsidenten vorausgesetzt – der Wahltag des 23. Februar, womit Scholz den verhofften Rückenwind durch die Hamburg-Wahl verpasst. So hat er das für ihn denkbar schlechteste Ergebnis erreicht: Weder errang er einen taktischen Vorteil noch den Respekt der Wähler.
Das wird auch in seiner Partei registriert. Bisher verlangen nur unbedeutende Parteimitglieder nach einem Wechsel an der Spitze, aber dass die ersten Rufe aus Scholz’ Heimatstadt Hamburg kamen, ist für ihn kein gutes Omen. Die Stimmung könnte sich stärker gegen ihn wenden, sollte es mit den Umfragewerten nicht bergauf, womöglich sogar bergab gehen. Mit derzeit 16 Prozent steht die SPD ungefähr da, wo sie drei Monate vor der letzten Bundestagswahl gestanden hatte – und aus Verzweiflung Scholz nominierte, den sie nur zwei Jahre zuvor als Parteichef verschmäht hatte.
Scholz versichert, die Aufholjagd von 2021 wiederholen zu können, aber die Lage ist nicht vergleichbar. Die Union wirkt geeint, und Scholz tritt nicht mehr als Hoffnungsträger an. Zu seinem Unglück verfügt die SPD mit Verteidigungsminister Boris Pistorius über einen Kandidaten, der bei den Deutschen ungleich beliebter ist und den Wahlkampfverlauf ändern könnte. Vermutlich wird Scholz es erst merken, wenn es zu spät ist: Während er strampelt, weht über Deutschlands ältester Partei schon der Duft der Verführung.
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