Der Elefant im Raum ist die K-Frage. Den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil nervt das am Samstagnachmittag sichtlich, als er vor Beginn seiner Dialogveranstaltung auf Zeche Zollverein in Essen in rascher Folge Interviews gibt. Mal auf Mal warnt Klingbeil seine Partei vor einer Debatte über die Auswechselung ihres Kanzlerkandidaten. „Olaf Scholz ist der Kanzler. Und alle, die in der SPD Verantwortung tragen, haben in den letzten Tagen auch deutlich gemacht, dass wir hinter ihm stehen“, beteuert Klingbeil vor den Kameras und Mikrofonen.
Klingbeil, seine Ko-Vorsitzende Saskia Esken und die Strategen im Willy-Brandt-Haus in Berlin hatten sich alles so schön ausgedacht, als sie noch mit einer regulären Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres rechneten. Um an der Basis inhaltliche Impulse für das Wahlprogramm zu sammeln und Schwung für die Scholz-Kampagne zu gewinnen, ersannen die Genossen ein Dialogformat. In Arbeitsgruppen mit Titeln wie „Frieden und Sicherheit“, „Arbeit, Rente und Gesundheit“ oder „Wirtschaft, Klima und sozialer Zusammenhalt“ sollte in Ruhe an den großen Themen gearbeitet werden.
Klingbeil will über Inhalt diskutieren, nicht über Personal
Doch kaum war Anfang November die erste Veranstaltung in Hamburg absolviert, zerbrach die Ampel. Beim zweiten Dialogtermin in Mainz vor einer Woche sagte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch, nun gehe es darum, ein Programm zu schreiben, bei dem wir „ganz, ganz wenig Zeit“ haben. In Essen mahnt wiederum Klingbeil, für die SPD sei es nun wichtig, „dass wir uns inhaltlich auseinandersetzen mit dem Bundestagswahlkampf, aber nicht über Personal diskutieren“. Der Fokus der Partei müsse ein anderer sein: „Es gibt eine Polarisierung zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz. Das sind fundamentale Gegensätze.“ Aus ihnen will er im Wahlkampf Funken schlagen.
Was der Bundesvorsitzende damit meint, macht er in seiner Auftaktrede deutlich: Der Kanzlerkandidat der Union soll als neoliberaler Wüterich vorgeführt werden. Die vorgezogene Bundestagswahl am 23. Februar sei eine Richtungsentscheidung darüber, ob in Deutschland künftig Politik für Besserverdienende gemacht werde oder für die wahren Leistungsträger. „Die wahren Leistungsträger unserer Gesellschaft sind die Busfahrer, die Lehrer und Polizisten, das sind die, die täglich dieses Land am Laufen halten“, ruft Klingbeil in den Saal.
Er freue sich auf den Wahlkampf, denn es gehe auch bei anderen Fragen wie etwa der Rente um eine klare Alternative zwischen der Union und der Sozialdemokratie. Er habe „richtig Lust“ auf die Auseinandersetzung. „Das wird richtig anstrengend, ich hätte uns allen gerne einen Winterwahlkampf erspart, aber wir werden das gut machen, denn die SPD kann gut kämpfen.“ Es gelte einen Kampf dagegen zu führen, dass Union und FDP eine Koalition bilden könnten.
Den mit Abstand stärksten Applaus erhält Klingbeil, als er mit den Freien Demokraten abrechnet. Zupass kommen ihm die Medienberichte vom Wochenende, wonach die FDP das Ampel-Aus angeblich per „Drehbuch für den Regierungssturz“ gezielt herbeigeführt hat. Klingbeil spricht von einer „Verhöhnung der Demokratie“, ein solches Verhalten gehöre sich nicht. Es zeige, „dass die FDP in diesem Land keine Verantwortung tragen darf“.
Auf ein unmissverständliches Bekenntnis zu Olaf Scholz, der am Sonntag zum G-20-Gipfel nach Brasilien aufbrach, verzichtet Klingbeil in seiner Auftaktrede jedoch. Fürchtet sich der Bundesvorsitzende vor zu mauer Zustimmung? Mit dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, hatte vor wenigen Tagen erstmals ein Spitzengenosse eingeräumt, dass es in der Partei Debatten über den idealen Kanzlerkandidaten gibt. „Ja, Grummeln ist da. Natürlich gibt es auch diese Stimmen“, sagte Mützenich.
„Es geht um die Frage, ob die SPD überlebt.“
Waren es zunächst zumeist Genossen aus der zweiten Reihe wie zwei Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete, melden sich mittlerweile auch einflussreichere Sozialdemokraten zu Wort. Der nordrhein-westfälische SPD-Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel, der nun bei der Bundestagswahl den seit Jahrzehnten von der SPD gehaltenen Wahlkreis I verteidigen will, warnte just am Wochenende vor einer dramatischen Niederlage bei der Bundestagswahl.
Er forderte einen raschen Beschluss der Parteiführung, um Verteidigungsminister Boris Pistorius zum Kanzlerkandidaten zu machen. „Die Stimmung in unseren Ortsvereinen und unter den Mitgliedern ist klar: Lasst uns wechseln. Boris Pistorius wäre der beste Kanzlerkandidat“, sagte Yüksel der Zeitschrift „Stern“. Scholz sei ein guter Kanzler gewesen, gerade in der Ukraine-Politik brauche er sich nicht zu verstecken. „Aber ob er noch mal antritt, ist nicht nur eine persönliche Entscheidung von ihm. Es geht jetzt um die Frage, ob die SPD überlebt.“
Faktisch gibt es derzeit nur einen, der sich auf die Kanzlerkandidatur festgelegt hat, und das ist Scholz selbst. Es gibt keinen unterstützenden Beschluss des Parteivorstands, bisher war er auch nicht geplant. Umso entschiedener stützen Esken und Klingbeil Scholz. Bis zum Bundesparteitag der SPD, der Ende Januar oder Anfang Februar stattfinden soll, ist noch viel Zeit. Dann sollen das Wahlprogramm und der Spitzenkandidat festgelegt werden. Der Bundeskongress der Jusos in der kommenden Woche in Halle könnte zeigen, ob der Parteinachwuchs bereit ist, sich für Scholz ins Zeug zu legen.
Anders als in der SPD-Bundestagsfraktion, wo Pistorius kein sonderlich gutes Ansehen genießt, weil sein Plan, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen, keinen Genossen begeisterte, ist er in der Bevölkerung nicht nur der beliebteste SPD-Politiker, sondern der beliebteste überhaupt. Bisher allerdings hat er sämtliche Kanzlerambitionen zurückgewiesen. Scholz dagegen landet bei Befragungen regelmäßig auf einem der letzten Plätze.
Wird die Wahl ohne Pistorius ein „Desaster“?
Nach dem Bruch der Ampelkoalition fürchten viele Abgeordnete, dass die SPD mit Scholz eine schwere Niederlage erleiden könnte und der Abstand zur Union nicht aufzuholen ist. Der „Spiegel“ zitiert den SPD-Abgeordneten Joe Weingarten aus Rheinland-Pfalz, der in einer vertraulichen Runde des konservativen Seeheimer Kreises gesagt haben soll, Scholz sei bei den Leuten „unten durch“. Ohne einen Wechsel zu Pistorius werde man bei der Bundestagswahl ein „Desaster“ erleben. Derzeit liegt die SPD in Umfragen bei 15 bis 16 Prozent. Als Königsmörder wollen sie trotzdem nicht gelten.
Doch der Druck auf Scholz wächst. Mit Franz Müntefering wagt sich nun sogar ein ehemaliger SPD-Bundesvorsitzender aus der Deckung. „Kanzlerkandidatur ist kein Spiel, das zwei oder mehr Kandidaten abends beim Bier oder beim Frühstück vereinbaren oder das ein Vorrecht auf Wiederwahl umfasst“, gab Müntefering im „Tagesspiegel“ zu bedenken.
Damit tritt Müntefering nicht nur Scholz selbst, sondern auch den beiden Parteivorsitzenden entgegen. Die Wahl eines Kanzlerkandidaten müsse der Bundesparteitag treffen. „Selbstverständlich sind Gegenkandidaturen in der eigenen Partei grundsätzlich möglich und kein Zeichen von Ratlosigkeit. Sie sind praktizierte Demokratie.“
In einer kurzen Pause der Dialogveranstaltung in Essen stärkt sich Sarah Philipp, die Ko-Vorsitzende des nordrhein-westfälischen SPD-Landesverbands, am bescheidenen Brezel-Büffet. „Uns ist sehr bewusst, dass es auf uns ankommt.“ Philipp spielt darauf an, dass die SPD ohne ihren mit Abstand größten Landesverband keine Bundestagswahl gewinnen kann.
Weil die SPD schon lange in vielen Regionen Deutschlands schlecht abschneidet, muss sie bei Bundestagswahlen zwischen Rhein und Weser umso bessere Ergebnisse einfahren. „Ich bin Optimistin, sonst könnte ich nicht Vorsitzende der NRW-SPD sein“, sagt Philipp mit Blick auf den 23. Februar kommenden Jahres. Zur K-Frage will sie sich eigentlich nicht äußern. „Aber klar, überall wird diskutiert. Auch in meinem Duisburger Ortsverein ging es heute Morgen darum. Da ist Dynamik drin.“
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