Russlands neues Feindbild: Kinderlosigkeit

Wer in Russland künftig öffentlich erklärt, keine Kinder bekommen zu wollen, muss damit rechnen, hohe Bußgelder zahlen zu müssen. Ob man die Kosten oder die Verantwortung scheut, ob Krieg oder Klimakrise der Grund sind, spielt dabei keine Rolle. Ebenso ist es unwichtig, ob man sich in einem Onlineforum äußert oder in einem Interview sagt, man möchte sich lieber nicht fortpflanzen.

Denn die Moskauer Machthaber haben eine „Ideologie der Kinderlosigkeit“ als neue Bedrohung ausgemacht. Wie alles Schädliche dringt sie angeblich aus dem Westen ins Land vor. Gerade hat die Duma, das Unterhaus, ein neues Gesetzespaket dagegen beschlossen. Um im Feindbild zu bleiben, bemüht es ein englisches Lehnwort: „Childfree-Ideologie“.

Nach „der Propagierung von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen und (oder) Vorlieben“ sowie „von Geschlechtsumwandlung“ soll jetzt auch der „Verzicht darauf, Kinder zu gebären“ nicht mehr in russischen Medien, Filmen oder Reklame beworben werden dürfen. Für Verstöße sind hohe Geldbußen vorgesehen. Was das Verbot genau umfasst, ist unklar, Definitionen fehlen.

Frauen sollen „Hüterinnen des heimischen Herds“ sein

Doch muss als sicher gelten, dass der Föderationsrat, Russlands Oberhaus, an diesem Mittwoch dem Gesetzespaket zustimmt und der Präsident es alsbald in Kraft setzt. Wladimir Putin lässt keinen Zweifel daran, dass Frauen zwar „Erfolge auf dem beruflichen Feld“ haben, aber „gleichzeitig die Hüterinnen des heimischen Herds, die echte Seele einer großen Familie mit vielen Kindern“ sein sollen, wie er auf einem Frauenforum der Eurasischen Wirtschaftsunion im September in Sankt Petersburg sagte.

Mit diesem Forum fällt der jähe Siegeszug des „Childfree“-Verbots in Russland zusammen. Zwei frühere Gesetzesvorstöße aus den Jahren 2022 und 2023 hatten es nicht einmal bis zur ersten Duma-Lesung geschafft. Sie wollten verbieten, gegenüber Minderjährigen einen Kinderverzicht zu bewerben. Schon damals war von einer „ausländischen Ideologie“ die Rede.

Aber es gab Kritik von der Regierung, etwa mit Blick auf die begrifflichen Unschärfen und darauf, wie sich die angebliche „Ideologie der Kinderlosigkeit“ von „Informationen, die familiäre Werte leugnen“ unterscheide. Davor seien Minderjährige schon nach bisheriger Gesetzeslage zu schützen. Auf regionaler Ebene fand der Kampfbegriff „Childfree“ schon Ende 2023 Einzug in die Gesetze. Als mehrere Regionen gegen Abtreibungen vorgingen, verbot das Gebietsparlament im westrussischen Kursk die „Propagierung“ von Schwangerschaftsabbrüchen ebenso wie eine „Childfree-Lebensweise“.

Russlands Bevölkerung schrumpft

Gemeint ist damit allgemein die bewusste Entscheidung, keine Kinder zu haben, ohne Rücksicht auf das individuelle Motiv dafür. Das folgt der Logik, dass das Individuum hinter den Erfordernissen des Staates zurückzutreten hat. Und der russische Staat, davon ist Putin überzeugt, braucht mehr Menschen. Vor gut drei Jahren klagte er unter Berufung auf „Spezialisten“, ohne die Revolution von 1917 und das Ende der Sowjetunion „hätten wir jetzt an die 500 Millionen Menschen“.

Russlands offizielle Einwohnerzahl wird mit gut 146 Millionen angegeben, wobei die mehr als zwei Millionen Bewohner der 2014 annektierten ukrainischen Krim mitgezählt werden. Die Bevölkerung wächst indes nicht, sie schrumpft. Es werden weniger Kinder geboren, mittlerweile so wenige wie in den krisengeschüttelten späten Neunzigerjahren.

Außerdem ist die Lebenserwartung in Russland geringer als in Westeuropa. In der Corona-Pandemie wies Russland eine hohe Übersterblichkeit auf. Jetzt ist die Zahl der Männer, die seit dem Frühjahr 2022 zu Zigtausenden im Ukrainekrieg fallen, ein Staatsgeheimnis. Dabei muss als gesichert gelten, dass die Invasion in das Nachbarland auch Russlands sogenanntes Demographie-Loch vergrößert und die ohnehin kleine Generation der Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen weiter ausdünnt – auch, weil Hunderttausende Russen ausgewandert sind.

Insgesamt geht die Bevölkerungszahl um etwa eine halbe Million Menschen im Jahr zurück. In der ersten Hälfte dieses Jahres betrug der Rückgang offiziell schon mehr als 321.000. Dagegen hat Putin angeordnet, die Geburtenrate zu steigern, von heute 1,4 Kindern je Frau auf 1,6 in sechs Jahren, dann weiter auf 1,8 im Jahr 2036.

Ob die Maßnahmen wirken, ist zweitrangig

Zugleich hat der Überfall auf die Ukraine den Kampf um angebliche „traditionelle Werte“ verschärft, den Putin seit Langem zur Legitimierung seiner Herrschaft und nun auch des Krieges gegen einen „kollektiven Westen“ bemüht. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob die Maßnahmen wirklich geeignet sind, um die Geburtenrate anzuheben: Es geht um Ideologie und Abgrenzung. Die Machthaber greifen auf das schon zu Sowjetzeiten erprobte Mittel zurück, sich imaginäre Gegner auszudenken wie eine „internationale Bewegung LGBT“, die Ende 2023 verboten wurde. Eine solche Struktur gibt es ebenso wenig wie eine kohärente „Childfree-Ideologie“.

Zudem ist die bewusste Kinderlosigkeit kein Massenphänomen in Russland: Laut einer aktuellen Studie wollen lediglich 2,4 Prozent der Russinnen und 3,5 Prozent der Russen kinderlos bleiben. Unabhängige Fachleute heben hervor, dass Verbote wie das der „Childfree-Propaganda“ nicht dabei helfen, Probleme zu beseitigen, die dem Kinderwunsch im Wege stehen.

Das betrifft etwa die Diskriminierung von arbeitenden Müttern und mangelnde Unterstützung bei der Betreuung. Die Fachleute verweisen auf Studien, denen zufolge das Armutsrisiko mit jedem Kind steigt. Auch dagegen will Putin etwas tun und hat eine „demographische Strategie“ in Auftrag gegeben.

Mehr als alles andere dienen die Schritte gegen angebliche äußere Kräfte, deren Einfluss es zu beseitigen gelte, seinem Personal als Arbeitsnachweis und Profilierungsmittel. Ende Juni sagte der stellvertretende Justizminister Wsewolod Wukolow, man bereite ein neues Gesetzesprojekt dazu vor, eine „Childfree-Ideologie“ zu verbieten. Es sei „extremistisch“, Frauen zu sagen, dass es ohne Kinder gehe, sagte Wukolow auf einer Veranstaltung unter dem Motto „Familie: Bewahren, nicht verlieren“. Solche gibt es regelmäßig in Russland, insbesondere, da Putin 2024 zum „Jahr der Familie“ erklärt hat.

Abgeordneten wird mit Mandatsentzug gedroht

Fahrt nahm das Gesetzesprojekt aber erst im September auf. Valentina Matwijenko, die Vorsitzende des Föderationsrats, sagte der kremltreuen Zeitung „Iswestija“ zur Einstimmung auf das Petersburger Frauenforum, im Westen habe sich der Feminismus radikalisiert, sei zu einer Bewegung „gegen Männer“ und „traditionelle Werte“ geworden, „jetzt geht es um irgendwelche Gender, von denen man schon mehr als 50 erdacht hat. Und übrigens muss man die Childfree-Bewegung meiner Ansicht nach gesetzlich verbieten.“ Putins Sprecher ergänzte, „alles“, was einer Erhöhung der Geburtenrate zuwiderlaufe, „muss aus unserem Leben verschwinden“.

Prompt ließ die Regierung über staatliche Nachrichtenagenturen verbreiten, sie unterstütze ein „Childfree“-Verbot. Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin schrieb auf Telegram, die Abgeordneten hätten begonnen, ein Gesetzesprojekt zu erörtern, „das die Propagierung eines bewussten Verzichts auf Kinderkriegen verbietet“. Kurz darauf wurden die neuen Gesetzesentwürfe „zum Verbot der Childfree-Ideologie“ in die Duma eingebracht, mit mehr als 160 Abgeordneten und fünf Oberhausmitgliedern als Autoren, unter ihnen Wolodin und Matwijenko.

In den Erläuterungen heißt es, eine „Ideologie der Kinderlosigkeit“ führe dazu, dass „öffentliche Institutionen degradieren sowie traditionelle Werteorientierung ausgewaschen“ und die „Bevölkerung entvölkert“ würden. Laut der Duma ist das Verbot in die „Strategie der Nationalen Sicherheit“ eingebunden. Wolodin drohte Abgeordneten, die gegen das Gesetzespaket stimmen sollten, vor der ersten Lesung Mitte Oktober mit Mandatsentzug. Gegenstimmen gab es dann auch nicht am vergangenen Dienstag, als es in zweiter und dritter Lesung verabschiedet wurde, was in Russland häufiger vorkommt.

Mönche sind vom Gesetz ausgenommen

Einzig die Russische Orthodoxe Kirche erwirkte in letzter Sekunde eine Einschränkung: Demnach soll „die Verbreitung von Informationen über Mönchtum und klösterliche Lebensweise, die Beachtung des Gelübdes der Ehelosigkeit (Zölibat) und des damit verbundenen Verzichts auf die Fortpflanzung“ nach dem neuen Gesetz nicht als „Childfree-Propaganda“ gelten. Dabei ist eigentlich klar, dass kremltreue Kräfte wie die Kirche und Machtvertreter ohnehin nicht Adressaten des neuen Repressionsgesetzes sind.

Anfang Oktober trat Jekaterina Misulina, die als Leiterin der Propaganda- und Denunziationsgruppe „Liga des sicheren Internets“ ebenfalls gegen „Childfree“ und für „Familienwerte“ agitiert, in der Stadt Tscheljabinsk im Süden des Uralgebirges vor Schülern und Studenten auf. Eine Journalistin fragte die Vierzigjährige mit Blick auf das künftige „Childfree“-Verbot, warum sie selbst keine Kinder habe. Misulina reagierte ungehalten, sagte, sie erörtere ihr Privatleben nicht. Die Reporterin wurde danach von Ermittlern in Zivil unter Druck gesetzt.

Folgen zeitigt das neue Verbot schon vor Inkrafttreten des Gesetzespakets. Zwar heben die Autoren hervor, dass Frauen weiter das Recht hätten, auf Kinder zu verzichten. Doch schloss auf VKontakte, dem russischen Facebook, eine Gruppe mit rund 150.000 Mitgliedern, in der sich Mütter unter anderem über Schwierigkeiten austauschten: Es sei unmöglich, alle Einträge der vergangenen neun Jahre seit Gründung der Gruppe auf Gesetzesverstöße hin zu prüfen.

Juristen heben hervor, dass Kinderlosigkeit in Werbung und in Filmen künftig nicht mehr in positivem Zusammenhang erscheinen dürfe. Nun werden vermutlich auch aus alten Filmen verfängliche Szenen entfernt, wie es schon beispielsweise für Szenen erfolgt, die Homo- oder Transsexualität thematisieren. Die Erfahrung der LGBT-Verfolgung legt nahe, dass in einem nächsten Schritt Verfechter der Kinderlosigkeit als „Extremisten“ verfolgt werden.

Derweil hat Putins Personal, das ständig auf der Suche nach weiteren Feindbildern ist, die nächste Bedrohung ausgemacht: das sogenannte Quadrobing oder Quadrobics. Der auch bei russischen Jugendlichen beliebte Trend, Tiere nachzuahmen, etwa nach Katzenart auf allen vieren zu gehen, ist Ziel eines Gesetzentwurfs gegen „destruktive Ideologie“. Duma-Sprecher Wolodin machte einen westlichen Plan zur „Entmenschlichung“ aus, der den Verzicht auf Kinder, „LGBT-Propaganda und Geschlechtsumwandlung“ ebenso umfasse wie „sich in der Rolle von Tieren auszuprobieren“.

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