Horst Opaschowski ist seit vielen Jahren der Mann für alle Fragen zur Zukunft der Deutschen. Der Hamburger Professor für Erziehungswissenschaften gründete 1979 das BAT Freizeitforschungsinstitut, das sich zunehmend auch mit Zukunftsfragen beschäftigte, und von Opaschowski bis zu seiner Emeritierung 2006 geleitet wurde. Da die Zukunft nie in Rente geht, machte auch Horst Opaschowski weiter, obwohl er am 3. Januar 76 Jahre alt wird.
Gemeinsam mit seiner Tochter, der Bildungsforscherin Irina Pilawa, gründete er unter anderem 2014 das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung (O.I.Z) in Hamburg. Prognosen sind ein heikles Geschäft: Kurz nachdem dieses Interview geführt wurde, gab es den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin, der natürlich neue Fragen aufwarf.
ICON: Nachdem nun der islamistische Terror Deutschland erreicht hat: Wird der Anschlag von Berlin nun alles, was die Deutschen vom neuen Jahr erwarten, verändern?
Horst Opaschowski: Nein! Ich habe es als Zukunftsforscher schon häufiger erlebt, dass Dinge passierten wie Anschläge oder Naturkatastrophen, die in dem Moment von den Menschen als so einschneidend erlebt wurden, dass sie ihre Zukunft ganz anders sahen. Mit ein paar Tagen Abstand relativierte sich diese Sicht meist. Auch bei dem Anschlag in Berlin ist das ja schon so. Und dass Deutschland so ein Anschlag treffen konnte, wussten wir ja schon länger.
ICON: Die relativ gelassene Reaktion zeigt, dass der Glaube an unsere Form der Demokratie, des Zusammenlebens groß ist. Zwar sind die Dänen gerade wieder aufgrund einer Umfrage zu den glücklichsten Menschen erklärt worden, aber auch die Norddeutschen gelten als potenziell sehr zufrieden. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Opaschowski: Das Ergebnis überrascht mich nicht. Die Dänen gelten seit den 80er-Jahren als die glücklichsten Europäer. Bei einem Dänen ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass er glücklich und sehr zufrieden ist, im Durchschnitt sechsmal höher als bei einem Italiener. Dies trifft auch für die Norddeutschen zu.
Nach dem Nationalen Wohlstandsindex für Deutschland (NAWI-D), in dem ich mit dem IPSOS Institut repräsentativ die Deutschen nach ihrem Wohlergehen gefragt habe, fühlen sich die Norddeutschen besser als die übrigen Bundesbürger. Sie sind glücklicher und sagen öfter: „Ich lebe dort, wo ich es möchte.“ Dänen und Norddeutsche sind bodenständig, zufrieden und heimatverbunden. Sie nehmen das Leben wie das Wetter. Ob heiter oder stürmisch. Sie sind einfach grundzufrieden.
ICON: Sehen Sie diese Grundzufriedenheit 2017 gefährdet?
Opaschowski: Da halte ich es mit Erich Kästner: „Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich.“ Nein, im Ernst: Wir leben in unsicheren Zeiten inmitten von Krisen und Kriegen. Die Grundzufriedenheit ist eine gute Basis für ein angstfreieres Leben, aber sorgenfrei leben sieht anders aus. Auch die Norddeutschen müssen mit Umweltgefahren, Terrordrohungen und Sicherheitsrisiken leben lernen.
ICON: Hat das Auswirkungen auf den Alltag, etwa auf das Konsumverhalten?
Opaschowski: Nach dem aktuellen Wohlstandsindex zählen sich die Norddeutschen – neben den Bayern – zur Spitzengruppe der Wohlhabenden in Deutschland. Sie fühlen sich sicher – vom sicheren Arbeitsplatz bis zum sicheren Einkommen. Das wirkt sich positiv auf das Konsumklima im Norden aus.
ICON: Beobachten Sie dennoch eine Veränderung der Stimmung?
Opaschowski: Die Stimmung in Deutschland deutet auf einen Wandel von der Ökonomie des Wohlstands zur Psychologie des Wohlergehens hin.
ICON: Was meinen Sie damit?
Opaschowski: Immer mehr Menschen aus der Mittelschicht empfinden die Gefahr, zu sozialen Absteigern zu werden. Sie sorgen sich um die eigene Zukunft und sichern ihr Wohlergehen – durch Sparsamkeit, Schnäppchenjagd oder Immobilienkauf für eiserne Reserven in Notzeiten. Vom Druck der Globalisierung bleibt auch die Mittelschicht in Norddeutschland nicht verschont. Als Zukunftsforscher habe ich schon vor Jahren ein „Ausbluten der Mittelschicht“ vorausgesagt.
ICON: Es wird oft behauptet, dass diese Angst vor dem Abstieg durch die Flüchtlinge, von denen auch viele nach Hamburg und Umgebung gekommen sind, einen Schub bekommen hat. Sehen Sie das auch so?
Opaschowski: Ich bin Realist: Nach der Euphorie der Willkommenskultur folgt jetzt der laute Ruf nach einer Respektkultur, in der man einander wieder vertrauen und respektieren kann. Über eine Million Flüchtlinge müssen auch sozial und nicht nur materiell verkraftet werden. Ein Jahr Migration hat zehn Jahre Integration zur Folge.
ICON: Am Mittelweg in Hamburg etwa ist ein vorbildliches Flüchtlingsheim: Die Anwohner kümmern sich, die Kinder und Eltern lernen gut zusammen.
Opaschowski: Die Zuwanderung wird auch 2017 nicht nur Konfliktpotenzial bringen, sondern ist auch eine Chance zum Umdenken. Auf die norddeutschen Regionen kommt als neuer Standortfaktor die örtliche Toleranz für ethnische Minderheiten hinzu. Einheimische und Zuwanderer müssen sich aufeinander zubewegen. Das gemeinsame Leitbild kann nur heißen: „Gut zusammenleben!“
ICON: AfD und Trump, Putin und Erdogan: 2016 war auch das Jahr der Populisten und „starken Männer“. Wird deren Auftreten und Art der Kommunikation das Land weiter verändern?
Opaschowski: Wir sind doch schon mittendrin: Die Diskussionskultur etwa hat sich längst verändert. „Fake News“ ist zum Unwort in Deutschland und der Welt geworden. Lügen sind so wirksam wie Wahrheiten und werden immer öfter als „gefühlte“ Wahrheiten akzeptiert. Realitätsferne und Zukunftsblindheit gehen dabei eine unheilvolle Vernunftehe ein.
ICON: Wird das Ihrer Einschätzung nach noch drastischer?
Opaschowski: Die Diskussion im Netz bewegt sich heute vielfach konfettiartig zwischen Wortfetzen und Bildsplittern. Die Teilnehmer stehen ständig unter Strom und haben keine Geduld für Langatmiges mehr. Viele fühlen sich erst wohl, wenn sie sich gehen lassen können. Die Gefahr wächst, dass Häme, Hass und Wut in den sozialen Medien zur Normalität werden. Das soziale Immunsystem im Menschen droht zerstört zu werden.
ICON: Was bedeutet das Ihrer Ansicht nach im beginnenden Bundestagswahljahr?
Opaschowski: Wenn alles so weitergeht, dann droht aus der Demokratie eine Online-Demokratie oder gar Virtukratie zu werden. Online-Wahlkreise und virtuelle Ortsvereine und Rathäuser verändern die politische Landschaft. Gerhard Schröders Devise von 1998, wonach er zum Regieren nur „Bild, BamS und Glotze“ brauche, überlebt sich im Zeitalter der Social Media. Wer die meisten Likes auf Facebook aufweist, wird zu den Gewinnern der nächsten Bundestagswahl gehören. Vielleicht werden wir bald einen digitalen Tsunami erleben, eine digitale Revolution ungeahnten Ausmaßes.
ICON: Gibt es Ihrer Meinung nach auch Gegenbewegungen dazu?
Opaschowski: Natürlich. In dem Buch „Generation @“ hatte ich 1999 die Auswirkungen der digitalen Revolution drastisch auf den Punkt gebracht: Es kommt zum Einbruch in die Privatsphäre. Netzkontakte verdrängen Freundschaftsbeziehungen. Und: Unsere Identität wird profitabel vermarktet. Da stehen wir heute. Es ist daher kein Zufall, dass die Sehnsüchte nach den drei V – nach Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit – immer stärker werden. Infolgedessen wird auch die neue Werteskala der Deutschen nicht mehr von Ich-Stärke, Kritikfähigkeit und Durchsetzungsvermögen angeführt, sondern von Ehrlichkeit, Anstand, Höflichkeit und Respekt.
ICON: Erwarten Sie auch eine Gegenbewegung zum 24-Stunden-7-Tage-die-Woche-Online-Dasein?
Opaschowski: Ja, die Gegenbewegung der nächsten Generation „nach“ den Digital Natives wird nicht lange auf sich warten lassen. Um nicht im digitalen Tsunami zu ertrinken, werden sie öfter den Stecker ziehen – und abschalten, auch mental.
ICON: In Deutschland ist man bei der Adaption digitaler Entwicklungen konservativ: Man kann das an den Reichstenlisten sehen: Hier stehen die Besitzer von Aldi, Lidl oder BMW oben, in den USA Milliardäre aus dem Silicon Valley. Sollte uns das beunruhigen?
Opaschowski: Nein, Deutschland bleibt ein technologisches und soziales Fortschrittsland, in dem Werthaltigkeit wichtiger ist als Wachstum und Reichtum um jeden Preis. Statt „Immer mehr“ heißt es eher „Immer besser“.
ICON: Was erwarten Sie generell von 2017?
Opaschowski: Ich glaube, dass die Sorge um sozialen Unfrieden in Deutschland auch im neuen Jahr größer sein wird als die Angst vor Terror. Zuversichtlich stimmt mich die Einstellung der jungen Generation: Sie gibt sich viel krisenresistenter als die ältere Generation und schaut hoffnungsvoll in „ihre“ Zukunft. Auch die digitale Revolution nimmt sie cool als Normalität hin. Vorige Woche fragte ein Fünfjähriger beim Betreten des ICE-Großraumwagens selbstverständlich: „Papa, gibt es hier auch Überwachungskameras?“
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