Meinung – Die wahre Flüchtlingskrise fängt jetzt erst an

Schaffen es deutsche und europäische Politik, die Misere in Afrika in neue Bahnen zu lenken? Der Kontinent mit den größten Menschheitsproblemen braucht eine Modernisierung, wie sie in Asien geschah.

Anstrengend war sie, diese Flüchtlingskrise. Aber nun kehrt Frieden ein. Die Bundesregierung verkündet beseelt, dass viel weniger Flüchtlinge ins Land kommen. Alles im Griff. Die Wahrheit aber ist: Nichts ist im Griff. Die wahre Flüchtlingskrise ist nicht vorbei.

Das Epizentrum des Jahrhundertproblems liegt in Afrika, nach wie vor, es wurde durch die nahöstliche Episode nur verdeckt. Seit die Balkanroute geschlossen ist, kommen wieder fast alle Migranten, die es nach Europa schaffen, aus Süden.

Die Zahl der Flüchtlinge, die sich von Afrika aus aufs Mittelmeer wagen, liegt seit Monaten sehr hoch. Das wird so bleiben. Das Schicksal Europas hängt auf Jahrzehnte an der afrikanischen Frage.

Blick nach Afrika muss Merkel beunruhigen

Nur langsam scheint Deutschland das zu verstehen, aber immerhin. Vor dem Herbst 2015 war es so: Afrikas Flüchtlinge kamen in Südeuropa an. Deutschland ließ die Küstenstaaten allein.

Berlin hörte weg, wenn Rom um Hilfe rief. Das blieb auch so, als viele Afrikaner von Italien nach Deutschland reisten und sich in deutschen Städten niederließen.

In den Turbulenzen der vergangenen zwölf Monate aber verstand Berlin, dass ferne Weltregionen heute ganz schnell nah sind. Dass Krisen, die eben noch fremde Völker betrafen, plötzlich Bundestagswahlen entscheiden. Migrantenströme sind Transmissionsriemen, die globale Konflikte in innenpolitische Schicksalsfragen übersetzen.

Der Syrien-Krieg war schon vergessen hierzulande, wenig später kostete er die Bundeskanzlerin fast das Amt. Ein Blick nach Afrika muss Angela Merkel beunruhigen.

Warum Afrika entscheidend wird

Drei Zahlen reichen, um zu verstehen, warum Afrika für Europa eine epochale Frage wird.

Erstens: Auf dem Kontinent bekommt jede Frau im Schnitt vier Kinder, im Rest der Welt nur zwei.

Zweitens: Bald leben zwei Milliarden Menschen in Afrika, mehr als in Indien, mehr als in China.

Drittens: Gerade mal 20 Prozent der Afrikaner haben einen fest entlohnten Job. Alle anderen schlagen sich irgendwie durch. Die Zahl der Menschen steigt rasend schnell, die der Jobs langsam. Hunderte Millionen werden ohne Perspektive sein.

Diese Rechnung kennt auch das Kanzleramt – und verkündete nun die Afrikawende. Der Kontinent soll in den Mittelpunkt deutscher Außenpolitik rücken, soll zentrales Thema der deutschen G-20-Präsidentschaft ab Dezember werden.

Das ist erst mal besser als die Politik des Wegsehens und der Wurschtigkeit, die Deutschland über Jahrzehnte gegenüber Afrika verfolgt hat. Als man Geld gab, um das Gewissen zu beruhigen, und sonst den Kontinent den Franzosen überließ, später auch den Chinesen oder einfach sich selbst.

Mit symbolischer Politik ist nichts zu erreichen

Man sollte sich aber nicht täuschen. Mit einer Politik-Show ist es nicht mehr getan. Es reicht nicht, die Wende zu propagieren. Es reicht nicht, Afrika im Jahr der G-20-Präsidentschaft als Reklame-Gag zu missbrauchen.

Die Afrikawende darf nicht eine neue „Wir schaffen das“-Offensive werden – also nicht noch einmal ein Projekt der großen Gesten und bescheidenen Inhalte. Die Gefahr, dass es so kommt, ist da.

Was die Kanzlerin in Afrika tun will, klingt jedenfalls sehr vertraut. Angela Merkel versucht, das Muster des EU-Türkei-Abkommens auf nordafrikanische Länder zu übertragen. Geld für Transitländer, Schutz der EU-Außengrenzen, Bekämpfung der Fluchtursachen.

Nun soll in Afrika gelingen, was im Nahen Osten schon kaum funktioniert? Was bisher getan wird, ist halbherzig und wenig schlüssig. Europa kann Afrikas Küste nicht bewachen lassen wie die türkische.

Migranten schicken wenigstens Geld nach Hause

Libyen ist als Staat implodiert, Deutschland muss mit dem Niger zusammenarbeiten, dem südlichen Nachbarn Libyens, dem ärmsten Land der Welt. Dessen Grenze verläuft Tausende Kilometer durch die Sahara. Der Niger hat weder Personal noch Geld, diese Frontlinie der Migration zu bewachen. Dem Land zu helfen wird sehr teuer.

Niger ist eine der ärmsten Regionen der Welt. Selbst Trinkwasser ist dort ein Problem. (Foto: Getty Images/Getty Images Europe)

Der nigrische Präsident hat schon seine Milliardenrechnung an die EU gestellt. Angela Merkel will sie in dieser Höhe nicht zahlen. Es wird nicht die letzte solche Forderung bleiben.

Afrikas Staaten sitzen an einem sehr langen Hebel. Warum sollten sie der EU helfen beim Grenzschutz? Viele Länder sind froh, dass ein Teil ihrer Einwohner nach Europa verschwindet. Es gibt ohnehin kaum Jobs, aus dem Ausland schicken die Migranten wenigstens Geld in die Heimat.

Wie bekämpft man Fluchtursachen?

Europa bleibt nur, mit der Kürzung von Entwicklungshilfe zu drohen. Das tut es auch, das ist gut so, weil es Geld nicht gratis geben darf. Aber es ist auch ein Dilemma. Wird die Hilfe wirklich gekürzt, verschärft das die Armut. Das gefährdet aber wiederum das große Ziel, die Fluchtursachen zu bekämpfen.

Aber was heißt das in Afrika überhaupt, Bekämpfung der Fluchtursachen? Die Kräfte, die auf dem Kontinent walten, sind riesig. Klassische Entwicklungshilfe konnte sie über Jahrzehnte nicht zähmen. Die Bundesregierung mahnt nun deutsche Firmen, sie müssten sich mehr engagieren.

Das ist theoretisch eine gute Idee: Die Unternehmen könnten investieren, vor Ort produzieren, ihre Waren an die afrikanische Mittelschicht verkaufen. Sie könnten Azubis einstellen. Das wäre wichtig, denn Bildung ist einer der wichtigsten Schlüssel, um Geburtenraten zu senken und Wohlstand zu mehren.

Asien ist ein gutes Vorbild für den Aufstieg

In der Praxis aber machen deutsche Firmen einen Bogen um Afrika. Wacklige Gesetze, Schlendrian, Korruption – selbst in Afrikas Musterstaaten ist alles versammelt, was Firmen scheu macht. Die Aufrufe der Kanzlerin in Ehren, aber auf ihrer jüngsten Reise flog nicht einmal eine Wirtschaftsdelegation mit.

Am ökonomischen Reißbrett lässt sich leicht eine schlüssige Lösung für Afrika zeichnen. Es kann nur die asiatische Lösung sein. Nur die Kräfte von Marktwirtschaft und Unternehmertum sind mächtig genug, einen Kontinent aus der Armut zu katapultieren.

Aber in Asien sieht man auch, was es noch braucht: starke Regierungen, die in Bildung, Gesundheit und Jobs investieren, faire Regeln für eine lebendige Marktwirtschaft. All das ist kaum zu finden in Afrika.

Afrikaner bekommen zu viele Kinder

Und auch wenn jeder, der Erfolge sucht, sie dort auch aufspüren kann – die Mittelschicht wächst, es gibt Metropolen, die sich westlichen Standards nähern –, bleibt das Kernproblem: Die Menschen bekommen so viele Kinder, dass kein Wachstum übrig bleibt.

Andererseits: Die Lage war vor 150 Jahren in europäischen Staaten ähnlich, vor 50 Jahren in Asien. Es ist kein Naturgesetz, dass Afrika ewig scheitert.

Was sicher ist: Es wird eine monströse Aufgabe, zu groß für Deutschland allein oder Europa, der ganze Westen muss zusammenarbeiten. Das ist auch eine Chance.

Einst geriet Europa über die Kolonien in Afrika in Streit, über den berühmten Platz an der Sonne – und taumelte am Ende in den Krieg. Nun könnte die Afrikawende helfen, das zerstrittene Europa zu einen.

Alle gemeinsam müssen ihren Platz in Afrika einnehmen, nicht als Kolonialherren, nicht als großmütige Helfer, sondern als kluge Partner, mit eigenen Interessen. Der Platz im Süden liegt nicht an der Sonne diesmal, sondern unter dunklen Wolken. Aber es gibt keine Alternative. Sonst ernten wir den Sturm in Europa.

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