Wird 2020 ein gutes Jahr?

Ja, sagt Holger Kreitling

Im Juni 2012 hatte ich ein Rückflugticket von Delhi zum neuen Hauptstadt-Flughafen in Berlin, daraus wurde bekanntlich nichts, wir landeten in Tegel. Seitdem bin ich überzeugt, dass das jeweils nächste Jahr nur besser werden kann. 2020 wird also der BER gewiss öffnen, es kann gar nicht anders sein, versprochen ist verbrochen, eine supersichere Sache im Oktober.

Und mit diesem Entrée ist das Jahr praktisch auf der Habenseite, es kommt eben darauf an, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Zum Beispiel gelingt es den Reinigungskräften der deutschen Städte bereits am 2. Januar, den Feuerwerksmüll wegzuräumen. Wir wollen realistisch sein: In Berlin dauert es bis zum 12. Januar.

Schlagartig endet damit jedenfalls die Silvesterempörung, sogar bei Twitter. Weil im Beethoven-Jahr noch mehr als sonst die famose 9. Sinfonie gespielt wird, bekommt „Freude, schöner Götterfunken“ gehörig Auftrieb. Irgendwann im Jahr werden Abba neue Musik veröffentlichen, das beseelt den Rest der Ungläubigen.

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Eine Erkenntnis von 2019 war, dass die Menschheit praktisch untergehen wird und zuvor die schöne Erde ruiniert, da so ziemlich alles falsch ist, was vormals als erstrebenswert und cool galt. Das kann also nicht schlimmer werden. Der neue heiße Scheiß ist, dass die jungen Demonstranten von Fridays for Future lutherisch anfangen, Apfelbäumchen zu pflanzen. Christian Lindner gibt bei TikTok bekannt, dass der Klimaschutz damit praktisch in den Händen von Profis liegt. Kevin Kühnert liked das, was allgemein als Aufforderung zur Zusammenarbeit interpretiert wird.

Im Frühjahr wird der Brexit verschoben, leider, irgendeine Vertragssache. Der Mai wird schön. Im Sommer erreicht die Fußball-Nationalmannschaft trotz schwerer Gruppe die Hauptrunde, Deutschland jubiliert, man ist in seiner Zuversicht ja bescheiden geworden. Kanzlerin Merkel und diverse Minister wollen vor Ort applaudieren, aber weil die Spiele überall stattfinden, kommt die Flugbereitschaft nicht nach. Große CO2-Ersparnis!

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Die Temperaturen während der Europameisterschaft liegen, heißa, deutlich unter denen von Katar (Achtung, 2022!). Der Dax steigt. Statistiker belegen, dass in sozialen Medien plötzlich weniger gehasst wird. Die SPD sieht sich in Umfragen auf dem Weg zu den Prozentzahlen wie zu Zeiten von Andrea Nahles. Von Sigmar Gabriel ist lange kein warnender Artikel mehr erschienen. Die Grünen warnen aber weiter.

Am 3. November wird in den USA ein Präsident gewählt. Jetzt zu hoffen, es würde ein Neuer, hieße den Optimismus doch arg zu strapazieren. Donald Trump hat seit dem 4. Juli insgesamt 4733 Tweets abgesetzt und in 4513 davon die politischen Gegner beleidigt. Gute Sache: Nur in etwa 4000 Fällen wurden deshalb in deutschen Medien warnende Kommentare verfasst, Tendenz fallend. Im Winter 2020 gelingt außerdem der Brexit wieder nur beinahe, knapp, 2021 ist auch noch ein Jahr. Man muss, wir wiederholen es gerne, daran glauben.

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Optimist & Pessimist: Holger Kreitling (l.) & Henryk M. Broder
Quelle: Getty Images/Moments RF/Aroon Phetcharat, Getty Images/500px/salt, Claudius Pflug, Martin Lengemann. Montage WELT

Nein, sagt Henryk M. Broder

Das zu Ende gehende Jahr war nicht gut. Sicher, es hätte noch schlimmer kommen können. Es gab kein Erdbeben, alle Flugzeuge der Lufthansa sind sicher, wenn auch oft verspätet gelandet, die große Koalition hat gehalten. Die Zahl der Asylanträge ist zurückgegangen, von 186.000 im Jahre 2018 auf 142.000 für die ersten zehn Monate in 2019. Ende des Jahres dürften es 170.000 sein, die Einwohnerzahl von Mülheim an der Ruhr.

Es gab einige Aufregung über die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke, allerdings auch ein Aufatmen darüber, dass Peter Sloterdijk übergangen wurde. Die SPD hat sich seit der letzten Bundestagswahl beinahe halbiert, dafür aber nach einem monatelangen Casting zwei charismatische Vorsitzende gefunden, die ihr wichtigstes Versprechen, die Koalition mit der CDU aufzukündigen, als erstes gebrochen haben.

In der großen Politik wurde weiter intensiv an der Vertiefung und Erweiterung der EU gearbeitet, mit sieben Kandidaten, die eine „Aussicht auf EU-Mitgliedschaft“ haben, darunter Albanien, Serbien und Kosovo. So soll der Schaden, der durch den Wegfall des Vereinigten Königreichs entsteht, wettgemacht werden. Und so gut wie jeden Tag steht ein Politiker auf und schlägt die Einführung einer neuen Steuer vor.

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Zuletzt hat ein SPD-Abgeordneter sogar ein generelles Verbot von Pick-up-Trucks gefordert, das sind die in den USA beliebten Autos, die von vorne wie normale Limousinen und von hinten wie Kleinlaster aussehen. Als Begründung sagte er: „Ich glaube nicht, dass die Welt untergeht, wenn wir auf die Neuzulassung von riesigen Spritschluckern in Deutschland und Europa verzichten.“

Womit wir einen eleganten Übergang in das neue Jahr gemeistert hätten. Nein, die Welt wird 2020 nicht untergehen. Sie ist auch nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht untergegangen, sie hat den Ersten und den Zweiten Weltkrieg überstanden und sich erstaunlich schnell von den Kollateralschäden des Kommunismus erholt. Die Welt würde auch nicht untergehen, wenn Autorennen verboten und die Bayreuther Festspiele nach Bad Segeberg verlegt würden.

Es wird allerdings ungemütlich und teuer werden. Wenn einmal Volltanken bei einem VW Golf mit einem 50-Liter-Tank je nach dem Stand der CO2-Steuer 80 bis 100 Euro kosten wird, werden sich manche daran erinnern, dass dies einmal 160 bis 200 DM waren und dass man mit diesem Geld eine Woche Urlaub mit Halbpension an der Adria buchen konnte.

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Aber es geht nicht allein um die Lebenshaltungskosten, die schleichende Enteignung durch die Nullzinspolitik und eine bewusst herbeigeführte Inflation. Wir sind mitten in einem gewaltigen Transformationsprozess. War noch vor Kurzem alles erlaubt, was nicht verboten war, geht es heute in die andere Richtung.

Bald wird alles verboten sein, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Nicht nur Kiel, Konstanz und Kleve haben inzwischen den Klimanotstand ausgerufen, auch das Europäische Parlament. Aber vielleicht sind das nur symbolische Akte ohne weitere Bedeutung. Eine Hoffnung für 2020 gibt es immerhin: Donald Trump bleibt Präsident der USA. Er muss nur wiedergewählt werden.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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Quelle: WELT AM SONNTAG

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