"CovMap"-Projekt der Charité und Net Check – "Corona-Wetterbericht": Forscher entwickeln Frühwarnsystem für Infektionscluster

Werden Corona-Infektionen früh erkannt, können weitere Ansteckungen oft vermieden werden. Um möglichst früh vor Infektionsherden zu warnen, arbeitet Mediziner Alexander Thieme von der Berliner Charité derzeit an einem Covid-19-Frühwarnsystem. Wir haben mit ihm über das Projekt gesprochen.

FOCUS Online: Herr Thieme, Sie entwickeln ein Covid-19-Frühwarnsystem. Wie soll das aussehen?

Alexander Thieme: Die Idee dazu kam mir, als mir klar wurde, dass Labortestkapazitäten zum Nachweis von Sars-CoV-2 Infektionen begrenzt sind, man jedoch moderne Informationstechnologien zur Bekämpfung der Pandemie einsetzen kann, die man schnell einem großen Teil der Bevölkerung zur Verfügung stellen kann.

Im Fall einer Corona-Erkrankung ist es wichtig, dass eine Infektion zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt identifiziert wird, um Folgeinfektionen zu vermeiden. Ganz am Anfang steht da natürlich der Kontakt. Zwei Menschen müssen sich begegnen, damit das Virus überhaupt übertragen werden kann.

Das Virus hat sich bereits über ganz Deutschland verbreitet – und man weiß nicht mehr ganz genau, wer es hat und wer nicht. Bei einem Teil der Bevölkerung löst das Virus nur sehr geringe Symptome aus, weshalb diese Träger meistens keine Labortestung erhalten und daher weitestgehend unentdeckt bleiben. Durch die momentanen Maßnahmen wie dem Social Distancing lässt sich das Virus leider nicht vollständig eliminieren. Wir arbeiten daher an einem System, das die Menschen früh vor möglichen Infektionsherden warnen soll.

Über den Experten

Alexander Thieme arbeitet als Facharzt an der Klinik für Radioonkologie der Charité in Berlin und ist Fellow und Sprecher des Digital Clinician Scientist Programms des Berlin Institute of Healths (BIH)/Charité. Der Mediziner und Informatiker hat bereits im Frühjahr die sogenannte CovApp entwickelt. Nun engagiert er sich gemeinsam mit Kollegen des Hasso-Plattner-Instituts und des Telekommunikations-unternehmens Net Check dafür, das Covid-19-Frühwarnsystem CovMap auf die Beine zu stellen.

Dafür nutzen wir GPS-Daten von einer Million Smartphone-Nutzern und rekonstruieren daraus das Kontaktverhalten der Bevölkerung. Dadurch können wir sehen, wie wahrscheinlich es ist, dass an einem bestimmten Ort ein Ausbruch bevorsteht.

FOCUS Online: Wie ermitteln Sie das?  

Thieme: Die Firma Net Check nutzt Mobilfunknetzdaten, wie die Feldstärke und GPS-Positionsdaten, von den jeweiligen Mobilfunknetzen durch anonyme Querschnittserhebungen. Mithilfe dieser Daten können wir ermitteln, ob sich zwei Geräte innerhalb von zwei Minuten innerhalb eines Radius von etwa acht Metern befanden. Das werten wir dann als Kontakt.

  • Alle aktuellen Nachrichten zur Pandemie lesen Sie im Live-Ticker.

Wir können zwar nicht sagen, welche der Personen infiziert ist oder nicht. Dafür gibt es aber eine gewisse Grundwahrscheinlichkeit. Wenn ein vermehrtes Kontaktverhalten zu sehen ist, dann heißt das nicht unbedingt, dass es zu einem lokalen Ausbruch kommt, aber die Wahrscheinlichkeit dafür steigt an.

Registrieren wir nun in demselben Gebiet zusätzlich einen Anstieg von selbstberichteten Symptomen, die typischerweise bei Covid-19 auftreten, so ist dies die Signatur für einen lokalen Ausbruch.

FOCUS Online: Auf welche Weise erhalten Sie Informationen über die Symptome der Bevölkerung?

Thieme: Inzwischen gibt es mehrere Web-Dienste, die Personen nach Symptomen befragen und daraus eine Wahrscheinlichkeit für eine Covid-19-Infektion ableiten. Ich habe in Zusammenarbeit mit Open Source Entwicklern eine Schnittstelle entwickelt, mit deren Hilfe die Ergebnisse von mehreren Diensten gebündelt und zentral, aber anonymisiert ausgewertet werden können. Hier existieren bereits mehrere Kooperationen und wir sind daran interessiert, diese weiter auszubauen, um Deutschland möglichst flächendeckend abbilden zu können.

Sie müssen sich das wie bei einem Wetterbericht vorstellen: Wenn sich bestimmte Konstellationen ergeben, dann kann sich etwa die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Gewitter auftritt oder dass es regnet. Übertragen auf unser System bedeutet dies, dass ein vermehrtes Kontaktverhalten in einem Gebiet und das zeitlich und örtlich geclusterte Auftreten von Symptomen in der Bevölkerung für eine erhöhte Wahrscheinlichkeit eines lokalen Ausbruchs spricht. Und das möchten wir in Form einer Karte darstellen.

Das Corona-Frühwarnsystem CovMap ist auf valide, bundesweit erhobene Symptomdaten angewiesen. Hierzu werden weitere Kooperationspartner gesucht, die Apps oder Webdienste entworfen haben, mit denen Symptomdaten abgefragt werden. Bei Interesse können Sie den Initiator des Projektes unter alexander-henry.thieme@charite.de kontaktieren.

FOCUS Online: Können Sie in Ihren Daten einen Trend erkennen, was die Kontakte in Deutschland angeht? Steigen sie seit Ende des Lockdowns wieder stärker?

Thieme: Ja, das können wir sehen. Das Kontaktverhalten war tatsächlich nach dem Lockdown maximal zurückgefahren. Seitdem steigt die Anzahl der durchschnittlichen Kontakte wieder. Vor circa zwei Wochen waren in etwa 70 bis 80 Prozent der vor dem Lockdown bestehenden Kontakte wiederhergestellt. Aber es gibt einen Unterschied.

FOCUS Online: Welcher ist das? 

Thieme: Wenn man eine Bevölkerung anhand des Kontaktverhaltens charakterisiert, kann man verschiedene Größen betrachten. Eine Zahl ist die durchschnittliche Zahl an Kontakten. Bei Sars-CoV-2 ist es aber insbesondere wichtig, dass ein Großteil der Infektionen von einer kleinen Gruppe von Infizierten übertragen wird. Man denkt, dass circa 80 Prozent der Infektionen von 20 Prozent der Infizierten verursacht werden, den sogenannten Superspreadern. Und das sind Menschen, die sehr viele Kontakte haben.

Während sich momentan die durchschnittliche Anzahl von Kontakten auf einen Wert wie vor dem Lockdown normalisiert, scheinen die Kontakte der Personengruppe, die eigentlich besonders viele Kontakte hat – wir nennen sie Superkontakter –, immer noch reduziert zu sein. Das haben wir auch in unserem Modell berücksichtigt, indem wir den sogenannten Kontaktindex herangezogen haben.

Mehr Videos mit Infektiologe Christoph Spinner

FOCUS Online: Was sagt dieser Kontaktindex aus?

Thieme: Der Kontaktindex schaut sich die Verteilung der Kontakte in der Gesellschaft an und berücksichtigt, wie viele Menschen es gibt, die besonders viele Kontakte haben. Wir sehen bisher kaum Menschen, die wieder sehr viele Kontakte haben. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum es in Deutschland momentan recht ruhig bleibt, was die Infektionszahlen angeht.

FOCUS Online: Ihr Frühwarnsystem soll Corona-Ausbrüche basierend auf Mobilfunkdaten vorhersagen. Diese Daten werden verschlüsselt zur Verfügung gestellt. Wenn man die Daten aber aus Datenschutzgründen nicht zu einer konkreten Person zurückverfolgen kann, wie kann man sagen, wer ein Superkontakter sein könnte?

Thieme: Net Check verwertet die Daten, welche uns zur Verfügung stehen, streng nach den Vorschriften der Datenschutz-Grundverordnung. Daher haben Sie recht: Es ist uns unmöglich, einzelne Personen zu identifizieren. Unserer Methode verlässt sich eben nicht auf die Identifikation einzelner Individuen, sondern es geht vielmehr darum, ob die Anzahl der Menschen, die viele Kontakte haben, ansteigt. Das bedeutet dann, dass dem Virus mehr Überträger mit einer hohen Kontaktdichte zur Verfügung stehen ausgehend von der tatsächlichen Zahl der Infizierten.

FOCUS Online: Die Zahl dieser Superkontakter ging Anfang bis Mitte März drastisch zurück – schon vor dem Lockdown. Das können Sie in Ihren Daten sehen. Womit hing das Ihrer Meinung nach zusammen?

Thieme: Natürlich ist es schwierig, das zu interpretieren. Einerseits gab es schon vor dem Lockdown Maßnahmen, die zu einer solchen Kontaktreduktion geführt haben können. Beispielsweise hat man Großveranstaltungen abgesagt. Zudem ist auch eine freiwillige Veränderung des Sozialverhaltens aufgrund der Furcht vor einer Infektion ein möglicher Grund.

FOCUS Online: Ziel Ihres Projekts ist es, eine Art „Wettervorhersage“ für Sars-CoV-2-Infektionen zu erstellen. Diese Vorhersage könnte neue Ausbrüche etwa sieben Tage im Voraus melden. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Thieme: Den Wert von sieben Tagen haben wir in unseren Daten gefunden. Wir nutzen die Daten des Nowcasting des Robert Koch Instituts (RKI) und sehen, wie viele Neuinfektionen es pro Tag gibt und schauen uns dann das Kontaktverhalten der Menschen kurz vor diesem Zeitpunkt an.

Unsere Hypothese war, dass es einen zeitlich verzögerten Zusammenhang zwischen dem Kontaktindex und der Reproduktionszahl R gibt. Und diese hat sich bewahrheitet. Den besten Fit haben wir dabei nach sieben Tagen gefunden. Zusammen mit Christoph Lippert vom Hasso-Plattner-Institut versuchen wir unser Modell weiter zu verbessern, um die Aussagekraft und die örtliche Auflösung zu erhöhen.

Nowcasting

Das Nowcasting ist eine Methode, bei der der Diagnose-, Melde- und Übermittlungsverzug von Coronainfektionen berücksichtigt wird und bei der die Fallzahlen vor diesem Hintergrund geschätzt werden. Das Nowcasting soll die Realität so besser abbilden und zeigen, wann sich Infizierte angesteckt haben.

Reproduktionszahl

Die Reproduktionszahl beziffert, wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Je niedriger der Wert, desto besser. Liegt die Reproduktionsrate bei mehr als 1, steckt ein Infizierter im Mittel mehr als einen anderen Menschen an – so erhöht sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Liegt die Rate unter 1, steckt ein Infizierter im Mittel weniger als einen anderen Menschen an.

 

Wir können diesen Zusammenhang – also einen erhöhten Kontaktindex und einen erhöhten R-Wert sieben Tage später – deutschlandweit in unseren Daten sehr gut sehen. Auch auf Bundesländer-Ebene erkennen wir den Zusammenhang. Unsere Ergebnisse werden wir der wissenschaftlichen Community in Form eines Preprints zur Verfügung stellen.

FOCUS Online: Das heißt, Sie schauen sich den R-Wert an, beobachten, ob er steigt und schauen dann in ihren Daten, ob in diesem Gebiet vor etwa sieben Tagen besonders viele Menschen Kontakt hatten. 

Thieme: Genau richtig. Wir zählen dann die Kontakte in einem Gebiet, berechnen den Kontaktindex und ziehen Rückschlüsse, ob diese Gegend eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für diesen lokalen Ausbruch zeigte. Wir sind zwar der Meinung, dass wir auch für den Ausbruch im Kreis Gütersloh ein Signal in unseren Daten gesehen haben. Ob Vorhersagen nicht nur Deutschland- und Bundeslandweit möglich sind, sondern auch auf Landkreisebene gelingen, müssen wir allerdings noch an weiteren Beispielen prüfen. 

FOCUS Online: Wenn eine Vorhersage eines Ausbruchs also anhand Ihrer Daten möglich ist – was müsste dann aus Ihrer Sicht geschehen, nachdem ein solches Ausbruchsgeschehen erkannt wurde?

Thieme: Wichtig ist, dass wir keine Panik in der Bevölkerung verbreiten wollen. Wir möchten das – wie gesagt – gerne wie eine Art Wettervorhersage verstanden sehen. Wenn es in den nächsten Tagen regnet, wäre es für die Bevölkerung vor Ort ratsam, einen Schirm mitzunehmen.

Übertragen auf Corona heißt das: Wenn ein solcher Ausbruch sich ankündigt, sollte besonders auf Maßnahmen wie Social Distancing oder das Tragen einer Maske geachtet werden. Wer zur Risikogruppe gehört, könnte nach Möglichkeit in einem solchen Fall zum Beispiel nicht dringende Termine verschieben.

Mehr zum Coronavirus

 

Wenn das Virus bereits übertragen wurde, kann man das nicht mehr rückgängig machen. Aber die Infizierten könnten weitere Menschen anstecken – das ist das, was wir mit unserer Vorhersage verhindern wollen.

Wenn wir in unseren Daten sehen, dass das Kontaktverhalten in einem Landkreis sehr risikobehaftet ist, können wir die Menschen dort daran erinnern, ihr Verhalten anzupassen und sich an vorbeugende Maßnahmen zu halten. Beobachten wir zusätzlich das gehäufte Auftreten von Symptomen, so spricht dies dafür, dass ein lokaler Ausbruch bereits stattfindet, so dass weitergehende Maßnahmen notwendig sind.

FOCUS Online: Wie weit sind Sie mit der Entwicklung dieses Frühwarnsystems? Ist eine Warnkarte bereits frei zugänglich?

Thieme: Wir planen, eine öffentlich zugängliche Webseite zu erstellen, die unter CovMap.de erreichbar sein wird. Die Software dafür ist bereits vorhanden. Erste Karten sind auch generiert und wir planen, diese bald der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Allerdings ist es aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll, zunächst noch weiter zu beobachten, wie zuverlässig unser Modell die korrekten Vorhersagen macht. Wir brauchen einfach noch mehr Daten, um zu sagen, wie groß der beobachtete Bereich sein muss und wie viele Leute Kontakt haben mussten, um valide Aussagen treffen zu können.

FOCUS Online: Was ist aus ihrer Sicht der Vorteil Ihres Frühwarnsystems – zum Beispiel im Gegensatz zur Corona-Warn-App der Bundesregierung, die ja in gewisser Weise auch eine Frühwarnung abgibt, wenn man möglicherweise Kontakt zu einem Infizierten hatte?

Thieme: Aus meiner Sicht gehen beide Projekte Hand in Hand, wobei die Ideen, die hinter den Projekten stecken, etwas andere sind. Die Corona-Warn-App zielt darauf ab, Infektionsketten zu unterbrechen. Dazu versucht die App herauszubekommen, welche Personen miteinander Kontakt hatten, so dass bei einem Nachweis einer Infektion weitere potentiell infizierte Personen schnell informiert werden können.

Ein Nachteil ist, dass Personen, die sich ebenfalls in der Nähe von Infizierten befunden haben, die App aber nicht benutzen, nicht informiert werden können. Die Corona-Warn-App verwendet Bluetooth und keine GPS-Informationen, so dass keine räumliche Zuordnung der Kontakte vorgenommen werden kann.

Mehr zum Coronavirus

 

Unser Corona-Frühwarnsystem CovMap berechnet aus den Kontakt- und Symptomdaten eine Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von neuen Infektionen, die wir einfach verständlich auf einer Karte darstellen. Da wir für diese Berechnungen keine konkrete Kenntnis über die Infektion von Einzelpersonen benötigen, können wir diese Daten in Echtzeit darstellen und eine Vorhersage für die Zukunft erstellen. Des Weiteren können wir einen größeren Teil der Bevölkerung erreichen, da die Karte für jedermann einsehbar sein wird und nicht nur für diejenigen Personen, die uns Daten zur Verfügung stellen.

Unser Frühwarnsystem könnte man dann zum Beispiel verwenden, um zu schauen, welche Public Health-Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Infektionen besonders effizient sind oder welche benachbarten Landkreise bei einem lokalen Ausbruch besonders gefährdet sind. Wir sehen unser System als Datenquelle, um Entscheidungen besser treffen zu können. Unser Ziel ist es, dazu beizutragen, die ökonomischen und psychologischen Auswirkungen der Pandemie in Deutschland zu reduzieren. Sowohl unser Corona-Frühwarnsystem CovMap als auch die Corona-Warn-App zielen darauf ab, das Leben in Deutschland wieder zu normalisieren. Deswegen verstehen wir uns nicht als Konkurrenzprojekt zur Corona-Warn-App, sondern als Ergänzung.

Zweite Welle im Anmarsch? Echtzeit-Karte zeigt Corona-Verbreitung in Deutschland

Coronacare

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*