Es war schon bald Mitternacht am Wahlsonntag in Japan, als die rechtskonservative Regierungspartei LDP sich ihres Sieges sicher sein konnte. In der Grafik des Senders NHK übertraf der rote Balken, der für die Sitze der regierenden Koalition aus LDP und Komei-Partei stand, endlich die Marke von 233 Sitzen für die einfache Mehrheit im Unterhaus. Die Hochrechnungen nach den ersten Befragungen an den Wahllokalen bestätigten sich also: kein Machtwechsel. Im Inselstaat kann sich das politische Establishment bestätigt sehen.
Es war kein knapper Sieg, der rote Balken wuchs so stetig, dass Fumio Kishida, LDP-Präsident und Japans Premierminister, schon früher am Abend feststellen konnte: „Wir haben das Mandat der Öffentlichkeit gewonnen.“ Aber es war auch kein Sieg ohne Verluste. 276 Sitze hatte die LDP bisher im Unterhaus, die buddhismusnahe Komei-Partei 29, zusammen kamen sie also auf 305. Nach dem vorläufigen Endergebnis erreichte die LDP diesmal nur 259 Sitze, Komei verzeichnete mit 32 Sitzen einen Gewinn. Was das für die politische Ausrichtung der LDP bedeutet? „Das müssen wir uns gründlich überlegen“, sagte Fumio Kishida.
Als den ganz großen Wahlgewinner hat Fumio Kishida, 64, sich nicht feiern lassen können in der Nacht von Sonntag auf Montag. Er ist erst seit Anfang Oktober im Amt. Sein Vorgänger Yoshihide Suga trat zur turnusmäßigen LDP-Präsidentschaftswahl Ende September nicht mehr an, nachdem die Umfragewerte vor allem wegen Sugas mittelprächtiger Coronavirus-Politik schlecht waren. Kishida setzte sich im parteiinternen Machtkampf durch, benannte ein neues Kabinett und musste bei der Unterhauswahl also gleich den größtmöglichen Test bestehen. Das Unterhaus ist das mächtigere der beiden Parlamente im japanischen Zweikammersystem.
Kishidas Hoffnung auf Aufbruchstimmung: vergeblich
Kishida bekam den Rückhalt, den er braucht, um nicht nach wenigen Wochen schon wieder aus dem Amt gekickt zu werden. Aber die Sitzverluste zeigen auch, dass Kishida vergeblich gehofft hatte, er und seine neue Regierungsmannschaft könnten so etwas wie Aufbruchstimmung entfachen. Die Verluste werden sich wohl sogar auf die LDP-Führung auswirken: NHK meldete in der Nacht, dass Generalsekretär Akira Amari, 72, seinen Rücktritt anbieten werde. Kishida hatte ihn gerade erst auf den Posten gesetzt. Aber Amari verlor in seinem Wahlkreis Kanagawa 13 das Direktmandat. Einem LDP-Generalsekretär ist sowas noch nie passiert.
Das durchwachsene Wahlergebnis der Regierenden ist keine Überraschung. Fumio Kishida ist selbst keine besonders schillernde Person, sondern eine bewährte LDP-Kraft mit Erfahrungen in der Regierungspolitik als Außenminister und in der Parteipolitik als Chef des LDP-Rats für Politik-Forschung. Er gilt nicht als erzkonservativer Hardliner, aber seine Wahl an die LDP-Spitze verdankt er vor allem dem Einfluss des rechtspopulistischen, durchaus skandalumwitterten langjährigen Premierministers Shinzo Abe. Das sieht man auch Kishidas Kabinett an, in dem viele Abe-Freunde sitzen, außerdem zwei 77-Jährige Minister-Debütanten und nur drei Frauen. Auch der angeschlagene neue LDP-Generalsekretär Amari steht Abe nahe.
Bei Wählerinnen und Wählern konnte so kaum der Eindruck entstehen, Kishida bringe frischen Wind ins Land. Und seine Ankündigung, einen „neuen Kapitalismus“ zu etablieren, eine gerechtere Verteilung des Wohlstands, eine Abkehr von der neoliberalen Abenomics-Politik von Shinzo Abe, konnte er im Wahlkampf auch nicht richtig durchhalten.
„Ohne Wachstum gibt es nichts zu verteilen“, rief Kishida noch am Tag vor der Wahl. Seine Regierung will ein neues pandemisches Hilfspaket für die Wirtschaft im Wert von mehreren Billionen Yen auflegen. Sie wird damit die enorme Staatsverschuldung weiter in die Höhe treiben und auf die ultralockere Geldpolitik der japanischen Nationalbank setzen. Vorerst nichts Neues also. Viele Leute nennen das Stabilität. Andere finden dieses Weiterwursteln nicht inspirierend. Die Folge konnte man am Wahlergebnis ablesen.
Die größten Gewinnerin in der Opposition ist eine Partei mit stramm rechten Positionen
Die Mitte-Links-Opposition hatte diesmal diverse gemeinsame Kandidaten aufgestellt, das machte sie in einzelnen Wahlkreisen stärker als zuvor. Für die Konstitutionell-Demokratische Partei (CDP), die größte Oppositionspartei in Japan, sagte der stellvertretende CDP-Vorsitzende Akira Nagatsuma, die Kooperation habe „gefruchtet“: „Es ist uns gelungen, ein Sammelbecken für Kritik an der Regierung zu werden.“ In Zahlen drückte sich das allerdings nicht unbedingt aus. Die CDP, bisher mit 110 Sitzen ausgestattet, erreichte 96. Japans Kommunistische Partei (JCP), der größte CDP-Partner, verlor zwei Sitze und kam auf zehn.
Den größten Erfolg hatte eine ganz andere Oppositionspartei, mit der CDP und JCP wohl nie zusammenarbeiten könnten: Nippon Ishin no Kai, die Partei für die Erneuerung Japans, stammt aus Osaka und ist dort aus einer erfolgreichen Lokalpartei hervorgegangen. Ishin ist für die Dezentralisierung Japans. Ansonsten teilt sie viele stramm rechte Positionen mit der LDP. Wie diese ist Ishin zum Beispiel für eine Änderung der pazifistischen Verfassung, damit der einstige Kriegs-Aggressor Japan wieder wehrhafter sein darf. Ishin gewann 41 Sitze – bisher hatte die Partei elf. Auch in Japans rechtem Mainstream gibt es also Leute, die die LDP nicht mehr wollen.
Außerdem fiel auf: Die Wahlbeteiligung war wieder niedrig. Laut der Zeitung Asahi zwar etwas höher als 2017 (53,68 Prozent). Aber 55,33 Prozent sind kein gutes Ergebnis für so eine wichtige Wahl. Eigentlich hatte keine Partei Grund zum Jubeln. Zu deutlich zeigte dieser Sonntag: Die Politikverdrossenheit in Japan ist groß.
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