Kiew wirft Russland Diebstahl von Hilfslieferungen vor

Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk wirft Russland den Diebstahl humanitärer Hilfsgüter vor. Zwölf Busse, die 14 Tonnen Lebensmittel und Medikamente in die Stadt Melitopol transportieren sollten, wurden laut Wereschtschuk am Donnerstag von russischen Streitkräften beschlagnahmt.

„Dies ist der Preis für die vereinbarten Korridore und für die Garantien des Roten Kreuzes, dass die Korridore bereitgestellt werden und funktionieren.“, sagte sie laut CNN. „Wir verhandeln über die Rückgabe der Busse und die Evakuierung der Bewohner von Melitopol morgen mit diesen Bussen.“

Melitopol wurde Anfang März von russischen Truppen besetzt, wenig später wurde der Bürgermeister der Stadt von russischen Invasoren entführt und später gegen russische Gefangene ausgetauscht. Aus der Stadt gab es zuletzt Berichte über akute Versorgungsprobleme.

Menschen stehen in Charkiw an, um Hilfsgüter zu erhalten

Menschen stehen in Charkiw an, um Hilfsgüter zu erhalten
Quelle: REUTERS

Nahe der Stadt Tschernihiw ist nach ukrainischen Angaben zudem am Donnerstag ein Hilfskonvoi von russischer Artillerie beschossen worden. Mindestens eine Person sei getötet und vier weitere seien verletzt worden, teilte die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denisowa, mit. Beschossen worden seien Freiwillige, die mit Bussen Bewohner aus der belagerten Stadt in Sicherheit bringen wollten. Wegen der russischen Belagerung sei das aber nicht mehr möglich.

Noch am Dienstag hatte Russland in der letzten Verhandlungsrunde mit der Ukraine in Istanbul eigentlich zugesichert, Kampfhandlungen um Kiew und Tschernihiw zurückzufahren, um Vertrauen und Voraussetzungen für weitere Gespräche zu schaffen. Doch der Beschuss dauerte auch am Donnerstag an.

Neuer Evakuierungsversuch in Mariupol

Unterdessen soll am Freitagmorgen die angekündigte Evakuierungsaktion für Zivilisten aus der belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupo beginnen. Ein humanitärer Korridor ins 220 Kilometer entfernte Saporischschja werde um 10.00 Uhr (Ortszeit; 09.00 Uhr MESZ) „wieder geöffnet“, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau am Donnerstag. Die Maßnahme folge einem „persönlichen Appell“ von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an Kreml-Chef Wladimir Putin.

„Um den Erfolg dieser humanitären Maßnahme zu gewährleisten, wird vorgeschlagen, sie unter direkter Beteiligung von Vertretern des UN-Flüchtlingskommissars und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) auszuführen“, hieß es in der Mitteilung weiter.

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Quelle: Infografik WELT/Isabell Bischoff

Ein Team des IKRK ist bereits im nahe gelegenen Saporischschja angekommen. Die Helfer hätten Medikamente, Essen, Wasser, Hygieneartikel und andere Dinge dabei, sagte der stellvertretende IKRK-Direktor für Einsätze, Julien Lerisson, am Donnerstag. Man habe von hoher Seite Zusagen für den humanitären Korridor, müsse aber sicher gehen, dass diese Informationen auch weiter unten in der Befehlskette ankämen, damit das Team auch sicher in die Stadt und wieder herauskommen könne.

Das russische Militär hatte zugesagt, auf der Strecke zwischen der russisch belagerten Stadt Mariupol und dem von Ukrainern gehaltenen Saporischschja die Waffen schweigen zu lassen. Nach ukrainischen Angaben sollen 45 Busse Menschen aus Mariupol bringen. Mehrmals waren solche Versuche gescheitert, weil die Strecke beschossen wurde.

Lucile Marbeau, ein Mitglied des IKRK-Teams, sagte, sie hoffe, dass ihr und ihren Kollegen diesmal ermöglicht werde, den Einwohnern sicheres Geleit aus Mariupol geben zu können.

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Im belagerten Mariupol sind seit Wochen zehntausende Zivilisten von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Die humanitäre Situation in der Hafenstadt wird von Hilfsorganisationen als katastrophal beschrieben. Evakuierungsversuche waren in den vergangenen Wochen mehrfach gescheitert. Russland und die Ukraine machten sich dafür gegenseitig verantwortlich.

Dagegen hat ein Hilfskonvoi der Vereinten Nationen am Donnerstag die von russischen Truppen belagerte Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine erreicht. Das sei wichtige Hilfe für Tausende, aber nicht genug, denn nach wie vor hätten die UN und ihre Partner keinen Zugang zu Städten wie Mariupol und Cherson im Süden, sagte die Nothilfekoordinatorin für die Ukraine, Osnat Lubrani.

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Ihren Angaben zufolge erhielten fast 6000 Menschen in Sumy sowie in Trostjanez und Ochtyrka Essensrationen von der Hilfsorganisation People in Need und dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Zudem gab es Pakete mit Hygieneartiklen, Medikamenten und Verbandsmaterialn sowie Haushaltsgegenstände wie Decken

Stadtkommandant: Lage in Kiew verbessert sich

Unterdessen hat sich die Lage in Kiew nach Angaben des Stadtkommandanten etwas entspannt. „Dank der standhaften Verteidigung und der heldenhaften Aktionen unserer Truppen verbessert sich die Situation rund um die Stadt“, hieß es in einer am Donnerstagabend veröffentlichten Mitteilung von General Mykola Schyrnow. In den Außenbezirken der ukrainischen Hauptstadt werde aber weiterhin gekämpft.

Ukrainische Soldaten bei einem zerstörten russischen Panzer in einem Vorort von Kiew

Ukrainische Soldaten bei einem zerstörten russischen Panzer in einem Vorort von Kiew
Quelle: AFP/RONALDO SCHEMIDT

„Das ukrainische Militär und Unterabteilungen des staatlichen Rettungsdienstes säubern und entminen die befreiten Gebiete“, teilte Schyrnow weiter mit. Er rief die Bevölkerung trotz der Fortschritte zur Vorsicht auf. Luftalarmsignale sollten weiter beachtet werden. Auch die zivile Infrastruktur werde wiederhergestellt, dies betreffe Unternehmen ebenso wie Handels- und Dienstleistungseinrichtungen, betonte Schyrnow.

Dies bestätigen auch Berichte des Reporters Illia Ponomarenko vom unabhängigen Medienunternehmen „The Kyiv Independent“, das u.a. von Axel Springer SE unterstützt wird, zu der auch WELT gehört. Die Lage seit noch weit von Normalität entfernt, doch es gebe viele kleinere Geschäfte, die wieder öffnen, schrieb er auf Twitter. Supermärkte aber auch kleine Cafés begrüßten wieder Kunden, und seit heute sei sogar das Alkoholverbot in der Stadt aufgehoben.

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Im südukrainischen Gebiet Cherson ist es den ukrainischen Truppen nach eigenen Angaben zudem in den vergangenen Tagen gelungen, elf Siedlungen zurückzuerobern. Dabei sei ihnen auch schwere russische Militärtechnik in die Hände gefallen, darunter Panzer vom Typ T-64, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew am späten Donnerstagabend mit. Dank des Erfolgs könnten die Einwohnerinnen und Einwohner nun Lebensmittel und Medikamente erhalten. Die Zivilbevölkerung habe die ukrainischen Kräfte freudig begrüßt. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

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Quelle: Infografik WELT

Zu den zurückeroberten Siedlungen gehört den Angaben zufolge auch Nowoworonzowka. Der Ort liegt strategisch günstig am rechten Ufer des Flusses Dnipro, der hier zum Kachowkaer Stausee aufgestaut ist. Ein Vordringen ukrainischer Truppen ins Gebiet Cherson würde auch die Großstadt Krywyj Rih entlasten und zudem verhindern, dass russische Einheiten die strategisch wichtige Stadt Mykolajiw vom Nachschub abschneiden.

Nach Angaben des Generalstabs in Kiew konnten russischen Einheiten dagegen an keiner Stelle Geländegewinne verzeichnen. Die ostukrainische Großstadt Charkiw werde weiter beschossen, ein Durchbruchsversuch nahe der Stadt Isjum sei aber gescheitert. Auch ein russischer Vorstoß im südukrainischen Gebiet Mykolajiw sei nicht erfolgreich gewesen.

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Kritik an Russland-Nähe

Russland will nach Ansicht des ukrainischen Generalstabs seine militärische Präsenz in der Ost- und Südukraine jedoch aufrechterhalten. Es gebe Versuche, eine Verwaltung in den besetzten Regionen der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson aufzubauen, teilte der Generalstab in der Nacht zum Freitag mit. Im Zuge dessen werde damit gerechnet, dass es dort weiterhin zu Kampfhandlungen kommen werde.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits gewarnt, Russland plane im südukrainischen Gebiet Cherson ein Pseudo-Referendum über die Bildung einer „Volksrepublik“ wie in den ostukrainischen Separatistengebieten.

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Selenskyj zeigte sich nun vorsichtig optimistisch. „Ich bin sicher, dass es für jeden von Ihnen sehr angenehm ist, die Nachrichten zu lesen und zu sehen, dass unsere ukrainischen Städte allmählich von den Besatzern befreit werden“, sagte der Staatschef in einer Videobotschaft.

Allerdings verlegt Russland nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums Truppenteile aus Georgien in die Ukraine. „Diese zwischen 1200 und 2000 Mann starken russischen Truppen werden zu taktischen Gruppen mit drei Bataillonen umorganisiert“, postete das Ministerium auf Twitter.

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Mit der Truppenverlegung wolle Russland offenbar seine Invasion in der Ukraine verstärken. Dem Ministerium zufolge sei es unwahrscheinlich, dass Russland geplant habe, auf diese Weise Verstärkung zu generieren. Die Verlegung werde als Hinweis auf die unerwarteten Verluste Russlands gesehen.

Vor diesem Hintergrund warnte auch Selenskyj, es gebe keine Entspannung. Er rief die Bevölkerung auf, Gefühle und Emotionen zurückzuhalten. „Wir wollen alle gleichermaßen den Sieg“, sagte Selenskyj. „Aber es wird weitere Kämpfe geben. Es liegt noch ein sehr schwieriger Weg vor uns, um alles zu bekommen, was wir anstreben.“

Auf die russischen Angreifer gemünzt sagte er: „Wir kennen ihre Absichten. Wir wissen, was sie planen und was sie tun“, sagte Selenskyj. Die Russen konzentrierten ihre militärische Schlagkraft jetzt auf andere Gebiete, die möglicherweise für die Ukrainer schwieriger zu verteidigen seien.

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