Vorreiterin des Abstrakten

Genauso muss man sich das vorstellen: Eine Frau in wallenden Gewändern steht auf einer riesengroßen, meterlangen Leinwand und schwingt konzentriert ihren Pinsel. Sie malt keine Landschaftsporträts oder Stillleben wie bei Frauen damals üblich, sondern lässt ausladende geometrische Formen und kosmische Motive entstehen: Dreiecke, Ellipsen, Kringeln und Strahlen, in kräftigem Gelb, Blau, Pink, knallig wie in der Pop-Art.

Die reinszenierten Malszenen aus Halina Dyrschkas Dokumentarfilm „Jenseits des Sichtbaren“ führen vor Augen, wie mutig af Klint gewesen sein muss: Die Schwedin, 1862 geboren, hatte keine kunsthistorischen Vorbilder und schuf trotzdem monumentale nonfigurale Werke, 1907 etwa die Bilderserie „Die zehn Größten“. In nur zwei Monaten entstanden da gleich 80 Quadratmeter Kunst, Darstellungen der Stationen eines Menschenlebens, Kindheit, Jugend, Erwachsenenzeit, Alter; wuchtig, lebendig und unglaublich sinnlich.

Ihre Gemälde sind mittlerweile – mit mehr als einem Jahrhundert Verspätung – zu Besuchermagneten geworden. Zur Retrospektive 2018 im New Yorker Guggenheim Museum kamen 600.000 Menschen, ein neuer Besucherrekord für das Haus.

„Hilma Who? No More“

„Hilma Who? No More“, kommentierte damals die „New York Times“, die Kunsthistorikerin Julia Voss fasste es nun folgendermaßen zusammen: „Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht diese Frau auf, die hat vor Kandinsky abstrakt gemalt, völlig unabhängig, hat dieses riesige Oeuvre geschaffen, und jetzt müssen wir uns fragen, wie integrieren wir das?“

Filmstills aus dem Film „Jenseits des Sichtbaren“ zeigt Hilma af Klint

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Hilma af Klint, 1862–1944: Die Spiritistin, Forscherin und Abstraktionspionierin blieb ein Jahrhundert vom Kunstbetrieb ignoriert​

Voss ist eine, die es wissen muss: Ihre knapp 600 Seiten dicke, packend zu lesende Biografie ist das neue Standardwerk, das auch hierzulande die Scheinwerfer der Kunstwelt auf af Klint richtet – nach der internationalen Entdeckung durch die Guggenheim-Retrospektive, die auch dazu führte, dass af Klint endlich in den Kunstkanon aufgenommen wurde. Und jetzt eben dieser Film, der wie alles Audiovisuelle einen unschlagbaren Vorteil hat: Er kann sinnlich erfahrbar machen, wie af Klint etwa Bildmotive ihrer Kollegen Paul Klee und Cy Twombly vorwegnahm – und welche Fülle ihr Werk bietet.

Spirituelle Neigungen

1.500 Gemälde und 26.000 Seiten Text hat af Klint geschaffen, ein Vermächtnis, das nicht zuletzt auch ihren erstaunlichen Werdegang nachzeichnet: Aufgewachsen in einer adeligen, bildungsaffinen Marineoffiziersfamilie wurde sie Mathematik, Astronomie und Kartografie gelehrt und entdeckte früh ihre Leidenschaft für naturalistische Malerei. Nach einem Kunststudium fand sie zur damals aufkommenden Theosophie. Eine Offenbarung: Mit ihren Freundinnen hielt sie Seancen ab, Geisterbeschwörungen, die zur neuen Inspirationsquelle und zum Schlüssel ihrer Abstraktion wurden: „Was ich brauchte, war Mut. Und ich fand ihn durch den Einfluss der spirituellen Welt, die mir seltene und wunderbare Anweisungen bescherte.“

Kandinsky und Kasimir Malewitsch – die geniale männliche Ratio, af Klint „nur“ ein Medium, das Bildmotive umsetzte, die ihr höhere Wesen diktierten? So sahen es nicht nur ihre Zeitgenossen: Ihr Spiritismus gilt als einer der Gründe, warum sie lange Zeit aus dem Kunstkanon ausgeschlossen war – zu suspekt schien die Aussage, dass die Bilder durch sie hindurch, aber nicht von ihr geschaffen wurden. Das Moderna Museet in Stockholm lehnte ihren Nachlass Anfang der siebziger Jahre ab, noch 2012 wurde sie in der New Yorker Überblicksausstellung „Inventing Abstaction 1910-–1925“ des Museum of Modern Art (MoMA) mit keinem Wort erwähnt.

Ein Werk, gedacht für die Nachwelt

Ignoriert wurde dabei, dass das Interesse am Übersinnlichen ein Zeitphänomen war: August Strindberg etwa nahm an Seancen teil, Mondrian, Kandinsky und Malewitsch waren zumindest an spirituellen Fragen interessiert. Die Erkenntnis, dass man nicht nur sehen und angreifen kann, was Wirklichkeit ist, wurde damals durch naturwissenschaftliche Entdeckungen wie Röntgenstrahlen, Radioaktivität und Relativitätstheorie befeuert – ein Boost auch für die abstrakte Darstellung, was Werktitel af Klints widerspiegeln, etwa „Die Atom Serie“ (1917). Die Künstlerin verstand sich als Forscherin, die die Welt durch ihr Werk erfassen und zugänglich machen will.

Im charismatischen Anthroposophen Rudolf Steiner sah af Klint schließlich eine Leitfigur, von der sie sich Anerkennung erhoffte – und Unterstützung für die Idee, einen spiralförmigen Tempel für ihre Kunst zu bauen. Doch Steiners Besuch 1908 war eine Enttäuschung: Er äußerte sich verächtlich über ihre Arbeit und reiste bald wieder ab – mit im Gepäck allerdings die nachkolorierten Fotografien von af Klints Arbeiten. Dass er sie später Kandinsky zeigte, den er ebenfalls besuchte, ist möglich, aber nicht überliefert.

Dass die Welt noch nicht reif für ihre Bilder ist, schien af Klint jedenfalls zu wissen: Auf einem Teil ihres Werks vermerkte sie die Zeichen „+ x“, die besagten, dass die Gemälde erst 20 Jahre nach ihrem Tod der Öffentlichkeit gezeigt werden sollten. 1944 starb af Klint. Ihr Neffe Erik war der alleinige Erbe, mit der Klausel, dass nichts verkauft werden dürfe und alles zusammengehalten werden müsse. Die Familie hielt sich daran, war aber selbst anfangs etwas ratlos ob dieses revolutionären Oeuvres.

Filmstills aus dem Film „Jenseits des Sichtbaren“ zeigt eine Frau die in einer Ausstellung ein Bild betrachtet

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Aus der Serie „Die zehn Größten“: In nur zwei Monaten schuf Hilma af Klint ein Werk von insgesamt 80 Quadratmetern

„Kunstgeschichte ist wie ein Herrenanzug“

Der Dokumentarfilm bittet sie nun alle vor die Kamera, Verwandte wie Kunstexpertinnen. Dass hier vor allem über Interviews erzählt wird, rundet die Ecken und Kanten dieser Künstlerinnenbiografie etwas ab: Hier geht es nicht darum, eine Stimmen hörende lesbische Esoterikerin auszustellen, sondern af Klint als geniale Einzelkämpferin auf den Sockel zu heben.

Buchhinweis

Julia Voss: Hilma af Klint – „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“. Fischer, 600 Seiten, 25,70 Euro.

Was jedenfalls überzeugend ausgelotet wird, sind die Gründe, warum af Klint erst jetzt Anerkennung erfuhr: Nicht nur der Spiritismus, sondern auch die – bedingt durch das ausgesprochene Verkaufsverbot – fehlende Marktfähigkeit trugen zur Marginalisierung bei – eine Stiftung hütet bis heute ihr Werk. Und nicht zuletzt: der Sexismus des Kunstbetriebs. „Die Kunstwelt ist der reinste Herrenanzug. Der Stoff ist männlich“, erklärte die Kunstsammlerin Valeria Napoleone, hier eindrücklich belegt durch eine lange Liste an Namen, von Artemisia Gentileschi bis zu hin Paula Modersohn-Becker.

Man kann es als späte Genugtuung sehen, dass af Klints Wunsch nach einem „Tempel für ihre Bilder“ schließlich fast erfüllt wurde: Das spiralförmige Guggenheim-Museum kommt dem Architekturentwurf erstaunlich nahe, den af Klint zu Lebzeiten nie realisieren konnte.

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