Merkels brisanter Abschiedsbesuch im Kreml

Berlin erneuerte vor Merkels Reise ihre Kritik am Vorgehen Moskaus gegen den inhaftierten Oppositionellen. „Dieser immer noch ungelöste Fall ist eine schwere Belastung des Verhältnisses zu Russland“, sagte der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch. Die deutschen Forderungen im Zusammenhang mit dem Fall stünden weiterhin ungelöst im Raum. Nawalny sei zu Unrecht in einem Straflager inhaftiert, gegen ihn werde eine neue Anklage erhoben.

Der 45-Jährige war am 20. August 2020 auf einem Flug von der sibirischen Stadt Tomsk nach Moskau ins Koma gefallen. Er wurde nach Deutschland ausgeflogen und in der Berliner Charite behandelt. Labors der deutschen Bundeswehr sowie in Frankreich, Schweden und bei der Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW) wiesen den illegalen Kampfstoff Nowitschok nach.

„Propagandakampagne“ gegen Russland

Damals sagte Merkel: „Nawalny ist Opfer eines Verbrechens. Er sollte zum Schweigen gebracht werden, und ich verurteile das auch im Namen der ganzen Bundesregierung auf das Allerschärfste.“ Deutschland und die EU forderten Russland zur Aufklärung des Falls auf und verhängten als Druckmittel auch Sanktionen. Nach seiner Behandlung in Deutschland wurde Nawalny bei seiner Rückkehr im Jänner in Russland festgenommen und später wegen angeblicher Verstöße gegen Bewährungsauflagen zu mehr als zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. Er ist seit gut acht Monaten in Haft.

Blick durch Gefängnisstäbe auf einen Fernseher mit dem Bild des inhaftierten russischen Oppositionspolitikers Alexander Nawalny

APA/AFP/Dimitar Dilkoff
Alexej Nawalny gilt als wichtigster Widersacher von Präsident Wladimir Putin

Offizielle Ermittlungen zu dem Fall haben die russischen Behörden nie eingeleitet. Bis jetzt habe der Westen für seine „unentschuldbaren Anschuldigungen“ keine Beweise vorgelegt, teilte das russische Außenministerium am Mittwoch mit. Nawalny werde für eine „Propagandakampagne“ gegen Russland genutzt.

Westliche Staaten versuchten, Nawalny in den Nachrichten zu halten, „mit dem Ziel, sich in die inneren Angelegenheiten unseres Landes einzumischen“, sagte das Außenministerium in Moskau am Mittwoch. Das umfasse auch die „Beeinflussung des Wahlkampfs“. Insbesondere Berlin lasse „keine Gelegenheit aus, den Hype um Nawalny“ als Vorwand für „neue Angriffe auf uns“ zu nutzen, heißt es in der Erklärung.

Kreml bestreitet Giftanschlag

Das russische Außenministerium stellte erneut die Vergiftung Nawalnys mit einem Kampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe infrage. In der Mitteilung wird nun suggeriert, dass das Nervengift erst in Deutschland in Nawalnys Körper oder seine biologischen Proben eingeführt worden sein könnte. Es müsse sichergestellt werden, dass „weder während seines (Nawalnys, Anm.) Charterflugs nach Deutschland noch bei der Ankunft in Berlin Spuren chemischer Bestandteile im Körper des Bloggers oder in seinen biologischen Proben auftauchten“, erklärte das Außenministerium.

Den deutschen Behörden warf es vor, Russland von den Ermittlungen im Fall Nawalny auszuschließen. Auf acht Auskunftsersuchen der russischen Staatsanwaltschaft habe Berlin nicht reagiert. Das Vorgehen Deutschlands und seiner Verbündeten in den zwölf Monaten seit dem plötzlichen Zusammenbruch Nawalnys zeige deutlich, dass Russland im „Visier einer vorbereiteten Provokation“ sei, die zum Ziel habe, „Russland in den Augen der internationalen Gemeinschaft zu diskreditieren“.

Amnesty fordert „unverzügliche Freilassung“

Im September findet in Russland eine Parlamentswahl statt. Nawalnys Mitarbeiter reagierten entsetzt auf die Mitteilung. Die russischen Behörden hätten immer wieder andere Versionen gestreut. Offenbar bereite sich Moskau so auf den Besuch Merkels vor. „Aber schlecht. Den ganzen Unsinn und die Lügen habe ich schon ausführlich in einem Video vor Monaten widerlegt“, sagte Nawalnys Mitarbeiterin Maria Pewtschich. Der Film hatte Donnerstagfrüh mehr als acht Millionen Aufrufe.

Die russischen Behörden würden die Aufklärung des Anschlags auf Nawalny „offensichtlich verweigern“, sagte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). Stattdessen sei Nawalny in Russland unter Bedingungen inhaftiert, „die ihn fast umgebracht hätten“. Gegen seine Unterstützer laufe eine „unerbittliche Repressionskampagne“. Bei Merkels Besuch dürfe der Fall „nicht unerwähnt bleiben“, so der Russland-Experte von AI, Peter Franck. „Wir fordern die russischen Behörden dringend auf, Alexej Nawalny unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Nawalny ist ein gewaltloser politischer Gefangener.“

„Warme Atmosphäre“ erwartet

Seibert sagte, bei Merkels Gespräch mit Putin werde es auch um die großen internationalen Fragen gehen, etwa die Lage in Afghanistan und den Konflikt in der Ostukraine, „zu dessen Lösung, Beilegung Russland sehr viel mehr tun könnte, als es tut“. Auch die Situation in Belarus, wo der Diktator Alexander Lukaschenko in schlimmster Weise gegen seine eigene Bevölkerung vorgehe und auf den die russische Führung Einfluss habe, werde Thema sein.

Treffen zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und Russlands Präsidenten Wladimir Putin im Jahr 2007 mit Putins Hund im Vordergrund

AP/Mikhail Metzel
Bei einem Treffen 2007 in Moskau war auch Labrador-Hündin Koni dabei

Trotz des brisanten Jahrestags und der scharfen Töne im Vorfeld rechnet der Chefredakteur der Website Russia in Global Affairs, Fjodor Lukjanow, mit einer freundlichen Begegnung zwischen Merkel und Putin. In dem Wissen, dass Merkel bald aus dem Amt scheide, werde Putin „alles dafür tun, eine warme Atmosphäre für das Treffen zu schaffen“. Merkel war zuletzt im Jänner 2020 in Moskau. Der Besuch am Freitag ist ihr zwanzigster.

Bei allen Differenzen verbindet Putin und Merkel biografisch vieles. Sie sprechen die Sprache des jeweils anderen, sie teilen die Erfahrung mit dem Leben in der untergehenden DDR, in der Putin als KGB-Offizier diente. Und auch die Dauer ihrer Machtausübung sorgte dafür, dass die beiden zuletzt eine Sonderstellung auf der Weltbühne einnahmen. „Unabhängig von Merkels Haltung gegenüber Putin und Russland sind beide ein wichtiger Teil ihres politischen Gepäcks“, sagt Lukjanow. Deutschland sei einer der wichtigsten westlichen Investoren in Russland, sagte Lukjanow.

Einigkeit über „Nord Stream 2“

Einig sind sich Putin und Merkel zumal im international heftig umstrittenen Ostsee-Pipeline „Nord Stream 2“. Die USA und europäische Staaten werfen der deutschen Regierung vor, die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen in Kauf zu nehmen. Zudem werde die Position der Ukraine gegenüber Russland geschwächt. Bisher ist die Ukraine das wichtigste Transitland für die Gaslieferungen nach Europa.

Daher stelle sich die Kanzlerin auch auf Kritik Kiews beim Thema „Nord Stream 2“ ein, wenn sie am Sonntag in die Ukraine weiterreist. „Wir nehmen die Sorgen der ukrainischen Seite sehr ernst“, sagte Seibert. Es bleibe dabei, dass Deutschland dafür eintritt, dass die Ukraine Transitland für russisches Gas bleibt. Deutschland hatte der Ukraine Kompensationen für zu erwartende Einnahmeverluste aus dem wegfallenden Gastransit in Aussicht gestellt.

Besuch in Kiew

Symbolisch aufgeladen ist auch der Zeitpunkt von Merkels Besuchs in Kiew. Am Dienstag begeht die Ukraine den 30. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung von der Sowjetunion. Am Vortag richtet Kiew ein internationales Gipfeltreffen zur Krim-Annexion aus. Mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj werde Merkel über den Stand bei den Minsker Vereinbarungen sprechen.

Das zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine ausgehandelte Abkommen zielt auf eine Deeskalation und Befriedung des seit 2014 in der Ostukraine herrschenden Kriegs und eine politische Beilegung des Konflikts ab. Merkel gilt dabei als zentrale Vermittlerin. Sie hat Selenskyi zuletzt im Juli in Berlin getroffen. Damals warf Selenskyj Russland die Blockade einer friedlichen Lösung vor.

In Kiew werde Merkel wie zuvor in Moskau einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten niederlegen, kündigte Seibert an. In Kiew werde sie zudem der Toten der proeuropäischen Revolution 2014 auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) gedenken. Die Kanzlerin werde von Selenskyj den „Orden der Freiheit“ erhalten. Zudem werde es ein Treffen mit Ministerpräsident Denys Schmyhal geben.

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