Messerangriff auf David Amess: Das Gespräch mit den Menschen lag ihm am Herzen

In der Wahlnacht von 9. April 1992, als alle zweifelten, ob die Konservativen es nach dem Sturz von Margaret Thatcher unter John Major schaffen würden, an der Regierung zu bleiben, gab es einen Moment, in dem die Augen der Nation auf David Amess gerichtet waren. Amess vertrat damals den Wahlkreis Basildon. Die Planstadt vierzig Kilometer östlich von London war ein mit knapper Mehrheit gewonnener Parlamentssitz, der seit seiner Bildung in den 1970er Jahren stets für die siegreiche Partei gestimmt hatte.

Gina Thomas

Feuilletonkorrespondentin mit Sitz in London.

Demnach galt Basildon als Barometer für die Wahlabsichten des „Essex Man“, des Stereotyps des konservativ wählenden Arbeiters. Er verhalf Margaret Thatcher zum Sieg, so wie Boris Johnsons Partei jetzt auf die Stimmen der Wähler hinter der sogenannten roten Mauer im Norden Englands angewiesen ist.

Basildon gehört auch zu den Wahlkreisen, in denen die Stimmen am schnellsten gezählt werden. In jener Nacht wurde David Amess bereits um 23.30 Uhr zum Sieger erklärt. John Major schildert in seinen Erinnerungen, wie er in seinem Wahlkreis mit einem Glas Cognac auf das Ergebnis wartete. Sobald es kam, rief er seiner Frau zu: „Das ist es, wir haben gewonnen.“ Das einnehmende Grinsen des jungenhaft wirkenden David Amess hat sich allen eingeprägt, die damals die Wahl verfolgten.

Ein großer Thatcher-Anhänger

Amess war in vielerlei Hinsicht der Inbegriff eines „Essex Man“. Er kam 1952 als Sohn eines Elektrikers und einer Schneiderin im Londoner East End auf die Welt und war stolz auf seine Wurzeln. Die Familie lebte in einem Reihenhaus ohne Eisschrank, dafür mit Außentoilette und einem an der Wand hängenden Zinnbad. Das East End habe ihn geformt, sagte Amess.

Bei der Messe, die am Freitagabend in der katholischen Kirche nahe des Orts abgehalten wurde, an dem Amess von einem Angreifer bei einer Wählersprechstunde mit einem Messer tödlich verletzt wurde, bezeichnete der Pfarrer ihn denn auch als „East End boy“. Amess habe „jenen großen Geist des East Ends“ mit sich getragen, „sich nicht davor zu fürchten, mit jedem zu reden“. Das erklärt, weshalb Amess 1979, als er noch in der Kommunalpolitik engagiert war, auserkoren wurde, mit Thatcher, die noch nicht Premierministerin war, in einer Werbeaufnahme für die Konservative Partei aufzutreten.

Boris Johnson besucht am Samstag den Tatort

Boris Johnson besucht am Samstag den Tatort : Bild: dpa

Amess ist ein großer Anhänger Margaret Thatchers geblieben. Er hielt sie „ohne Zweifel“ für „die herausragendste und am meisten zum Nachdenken anregende Politikerin“ seiner Zeit.

Amess befürwortete den Austritt aus der Europäischen Union und konnte bis zuletzt nicht fassen, dass dieses Ziel tatsächlich realisiert worden ist. Es war bezeichnend für sein Verständnis von Patriotismus, dass er sich für ein Denkmal der beliebten Sängerin Vera Lynn einsetzte, die den Soldaten im Zweiten Weltkrieg mit heimatbezogenen Liedern wie „The White Cliffs of Dover“ Mut gemacht hatte. Und es ist ebenso charakteristisch für sein Humanitätsempfinden, dass er die Kampagne für ein Denkmal des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg zur Würdigung von dessen Einsatz für die Juden unterstützte.

Er setzte sich für die Interessen seines Wahlkreises ein

Amess ordnete sich dem rechten Flügel der Partei zu. Unlängst bejahte der Hinterbänkler die Frage, ob er glaube, dass seine Ansichten seine Karriere behindert hätten. Obwohl er seit 1983 im Parlament saß und somit einer der am längsten dienenden Mitglieder des Unterhauses war, schaffte er es nie über den Posten des parlamentarischen Privatsekretärs hinaus, nicht zuletzt, weil er es vorzog, sich für die Interessen seiner Wähler einzusetzen, statt sich im Parteiapparat zu lavieren. Er war bekannt dafür, in seinen parlamentarischen Interventionen keine Gelegenheit auszulassen, den Namen seines Wahlkreises, erst Basildon, dann Southend, zu nennen.

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