Nach Angaben der ukrainischen Armee hat Russland begonnen, Ressourcen für den Sturm auf die ukrainische Hauptstadt Kiew zusammenzuziehen. Das geht aus dem Bericht des Generalstabs hervor, der in der Nacht zu Montag auf Facebook veröffentlicht wurde.
Russische Truppen versuchten gleichzeitig, die volle Kontrolle über die kurz vor Kiew liegenden Städte Irpin und Butscha zu erlangen. Von dort sind es nur mehr wenige Kilometer zur nordwestlichen Stadtgrenze.
Laut der ukrainischen Regionalverwaltung hatte es den gesamten Sonntag über heftige Kämpfe im Umland der ukrainischen Hauptstadt gegeben, insbesondere entlang der Straße die nach Schytomyr (150 Kilometer westlich von Kiew) führt, sowie in Tschernihiw (150 Kilometer nördlich der Hauptstadt).
Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko schrieb auf seinem Telegram-Kanal am Sonntag, dass es Kämpfe nahe Kiew gebe.
Die Stadt sammle weiter alle Ressourcen für ihre Verteidigung. Er habe mehrere Kontrollpunkte an der Stadtgrenze besucht, die Sicherheitskräfte seien entschlossen, jeden Angriff abzuwehren.
Russische Einheiten wollten sich zudem einen taktischen Vorteil verschaffen, indem sie die östlichen Außenbezirke Kiews über die Bezirke Browary und Boryspil erreichten, hieß es weiter.
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Der Berater des ukrainischen Innenministers, Wadym Denysenko, sagte laut der ukrainischen Internetzeitung „Ukrajinska Prawda“ in einer Live-Fernsehsendung am Sonntagabend, auf Anfahrtswegen nach Kiew habe sich eine recht große Menge an russischer Ausrüstung und Truppen angesammelt. „Wir gehen davon aus, dass der Kampf um Kiew die Schlüsselschlacht der nächsten Tage ist.“
Verstärkte Beschüsse der Städte
Das russische Militär hat laut der Nachrichtenagentur Interfax für 8 Uhr eine Waffenruhe geplant, um humanitäre Korridore für mehrere ukrainische Städte zu öffnen. Es sollten auf Bitte des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und angesichts der Lage vor Ort Korridore für die Hauptstadt Kiew sowie die Städte Mariupol, Charkiw und Sumy geöffnet werden, meldet Interfax unter Berufung auf das russische Verteidigungsministerium.
„Die jüngste Welle von Raketenangriffen kam bei Einbruch der Dunkelheit“, sagte Präsidentenberater Oleksiy Arestowitsch im ukrainischen Fernsehen.
Zu den unter schweren Beschuss geratenen Gebieten zählten laut Arestowitsch die Außenbezirke der Hauptstadt Kiew, Tschernihiw im Norden, Mykolajiw im Süden und Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine.
Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten, dass dabei unter anderem ein Sportkomplex einer Universität und andere zivile Gebäude getroffen wurden. Unterdessen konzentrierten die russischen Truppen nach Angaben des ukrainischen Generalstabs ihre Angriffe neben Charkiw im Osten des Landes auch auf Sumy im Nordosten und Mykolajew im Süden.
Die Lage in den Kiewer Vorstädten Butscha, Hostomel und Irpin sei katastrophal, sagte Arestowitsch. Versuche, Einwohner am Sonntag von dort in Sicherheit zu bringen, waren weitgehend gescheitert. Die Regierung versuche alles in ihrer Macht Stehende, die Evakuierungen wieder aufzunehmen, sagte er.
Ähnliche Aktionen waren auch in Mariupol im Süden und Wolnowacha im Osten wegen fortdauernden Beschusses gescheitert.
„New York Times“: Drei Angehörige von Familie bei Beschuss getötet
Nach Angaben von Journalisten beschoss die russische Armee beim Vormarsch auf die ukrainische Hauptstadt Kiew eine Brücke mit Mörsern und tötete mindestens drei Angehörige einer Familie. Die „New York Times“ verbreitete ein verstörendes Bild ihrer Fotoreporterin Lynsey Addario, das vier auf dem Boden liegende Zivilisten zeigt, und schrieb dazu: „Ukrainische Soldaten versuchen, den Vater einer vierköpfigen Familie zu retten – der als einziger zu diesem Zeitpunkt noch einen Puls hatte -, nachdem er am Sonntag beim Fluchtversuch aus Irpin in der Nähe von Kiew von einer Mörsergranate getroffen wurde.“
Die Toten seien ein Teenager, ein Mädchen im Alter von geschätzt acht Jahren und die Mutter.
Die „New York Times“ schrieb, ukrainische Truppen hätten die Brücke gesprengt gehabt, um den russischen Vormarsch zu bremsen. Hunderte Flüchtlinge hätten sich seit Samstag an der beschädigten Brücke versammelt gehabt, um den Fluss Irpin zu überqueren. Am Sonntag hätten sich rund ein Dutzend ukrainische Soldaten in unmittelbarer Nähe der Brücke aufgehalten, die aber nicht gekämpft, sondern Zivilisten beim Tragen von Gepäck und Kindern geholfen hätten. Auf der Kiewer Seite der Brücke habe es einen etwa hundert Meter langen Straßenabschnitt gegeben. Um ihn zu bewältigen, hätten die Menschen kleine Gruppen gebildet und seien gemeinsam losgerannt.
Die „New York Times“ veröffentlichte auch eine Filmaufnahme eines freien Journalisten namens Andriy Dubchak. Darauf sind im Hintergrund Zivilisten in Bewegung zu sehen, plötzlich kommt es zu einer heftigen Explosion, danach liegen Menschen auf der Straße. „Soldaten eilten zur Hilfe, aber die Frau und die Kinder waren tot“, schrieb die Zeitung. „Ihr Gepäck, ein blauer Rollkoffer und einige Rucksäcke, lag verstreut herum, zusammen mit einer grünen Tragetasche für einen kleinen Hund, der bellte.“
US-Medienbericht: Russland rekrutiert syrische Kämpfer für Häuserkampf
Einem US-Medienbericht zufolge hat Russland für seinen Angriff auf die Ukraine syrische Kämpfer rekrutiert. Das „Wall Street Journal“ berichtete unter Berufung auf vier US-Beamte am Sonntag, dass sich bereits einige der Kämpfer in Russland befinden und sich auf den Einsatz in der Ukraine vorbereiten. Die Kämpfer hätten Erfahrung im Häuserkampf und könnten den russischen Truppen demnach bei der Einnahme Kiews helfen.
Die russischen Streitkräfte erhalten bei ihrem Angriffskrieg in der Ukraine bereits Unterstützung von Kämpfern aus der autonomen Republik Tschetschenien. Der mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verbündete Machthaber Ramsan Kadyrow hatte vergangene Woche den Tod zweier seiner Soldaten im Ukraine-Krieg gemeldet.
Tausende ausländische Freiwillige melden sich zum Kampf
Nach Angaben von Außenminister Dmytro Kuleba haben sich bereits mehr als 20 000 Freiwillige aus 52 Ländern gemeldet. Sie würden in einer neu geschaffenen internationalen Legion dienen.
Wie viele der ausländischen Freiwilligen bereits in der Ukraine eingetroffen sind, sagte Kuleba nicht.
„Die ganze Welt ist heute auf der Seite der Ukraine, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten“, sagte Kuleba am Sonntagabend im ukrainischen Fernsehen. Die Herkunftsländer der Freiwilligen nannte er nicht – manche von ihnen erlaubten ihren Bürgern nicht, für andere Staaten zu kämpfen, sagte der Minister.
In dem seit zwölf Tagen andauernden Krieg sind bereits hunderte Zivilisten gestorben. Nach UN-Angaben sind mehr als 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht.
Am Montag soll nach ukrainischen Angaben eine dritte Runde der Waffenstillstands-Gespräche zwischen der Ukraine und Russland stattfinden. Die Aussichten auf einen Erfolg erscheinen allerdings gering. Russlands Präsident Wladimir Putin zeigte sich zuletzt entschlossen, seine Ziele in der Ukraine durchzusetzen. Kiew lehnt russische Forderungen wie eine Entmilitarisierung jedoch strikt ab.
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