Russische Kampfflugzeuge haben nach ukrainischen Angaben neue Luftangriffe auf Wohngebiete im Osten und in der Mitte der Ukraine geflogen. Dabei seien am Dienstagabend in Tschuhujiw östlich von Charkiw zwei Menschen getötet worden, darunter ein sieben Jahre altes Kind.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar seien bei Kämpfen in Charkiw 170 Zivilisten getötet worden, darunter fünf Kinder, sagte ein Behördensprecher der Agentur Unian zufolge.
In ein Haus in Charkiw krachte das Seitenleitwerk eines russischen Su-34-Bombers. Der Bürgermeister der umkämpften ukrainischen Metropole warf den angreifenden russischen Truppen den vorsätzlichen Beschuss ziviler Infrastruktur vor.
Der ukrainische Generalstab berichtete auch von neuen Kämpfen in Isjum im Osten. Das dortige Zentralkrankenhaus sei völlig zerstört, teilte die Stadtverwaltung mit.
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In der Stadt Malyn im Gebiet Schytomyr starben drei Erwachsene und zwei Kinder, als Bomben sieben Häuser zerstörten, wie der Zivilschutz in der Nacht zu Mittwoch mitteilte. In der Nähe der Stadt Schytomyr zerstörten Luftangriffe nach Angaben von Bürgermeister Serhij Suchomlyn ein Werk für Mineralwolle.
In Ochtyrka bei Sumy kam mindestens ein Mensch ums Leben, 14 Menschen wurden demnach verletzt. Die russische Armee habe zwei Stunden lang die zivile Infrastruktur des Ortes beschossen, sagte der Chef der Gebietsverwaltung, Dmytro Schywyzkyj. Die Angaben sind nicht unabhängig zu prüfen.
Russische Artillerie habe Außenbezirke von Kiew unter Beschuss genommen, sagte Jaroslaw Moskalenko, der die humanitäre Hilfe in der Region Kiew koordiniert. Zivilisten hätten in Luftschutzräumen Zuflucht suchen müssen. Die Versorgung mit Wasser, Strom und Nahrungsmitteln sei unterbrochen.
In Borodjanka bei Kiew habe der Beschuss die Bergung von fünf Leichen verhindert. Die Menschen seien in ihrem Fahrzeug unter Feuer geraten und gestorben. Auch die Bergung von zwölf toten Patienten einer psychiatrischen Klinik sei verhindert worden, sagte Moskalenko. Weitere 200 Patienten säßen dort ohne Nahrung und Medikamente fest.
Auch in der Region Kiew gingen die Evakuierungen weiter, obwohl humanitäre Korridore beschossen wurden, wie der Leiter der örtlichen Verwaltung, Oleksij Kuleba, berichtete.
Irpin: „kein Wasser, Gas oder Strom“
Im nordwestlichen Kiewer Vorort Irpin beobachtete ein Reporter der AFP, wie weiterhin hunderte Menschen auf behelfsmäßigen Stegen aus Brettern und Metallstücken den gleichnamigen Fluss überquerten. Eine Bewohnerin berichtete, dass es „kein Wasser, Gas oder Strom“ mehr gegeben habe und sie sich tagelang im Keller verstecken musste. Verzweifelte Menschen versuchten auch, den nördlichen Vorort Butscha zu verlassen.
„Angesichts der sich verschlechternden humanitären Lage … und um die Sicherheit der Zivilisten und ausländischer Bürger zu gewährleisten, wird Russland am 9. März ab 10 Uhr Moskauer Zeit (08.00 Uhr MEZ) eine Feuerpause einhalten und ist bereit, humanitäre Korridore einzurichten“, zitiert die Agentur Tass den Chef des russischen Verteidigungskontrollzentrums, Michail Misinzew. Die Information über die Fluchtwege werde er der ukrainischen Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk zukommen lassen.
Lage in Mariupol immer verzweifelter
Auch für das umkämpfte Mariupol forderte die Ukraine von Russland einen Fluchtkorridor, und zwar nach Saporischschja, sagte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk. Seit Tagen werde vergeblich versucht, Hilfslieferungen in die Hafenstadt zu bringen. In Mariupol warten nach Angaben des Roten Kreuzes 200.000 Menschen darauf, aus der Stadt zu kommen. Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz ist die Lage katastrophal.
Seit Tagen gibt es dort weder Wasser noch Heizung noch eine funktionierende Kanalisation oder Telefonverbindung. Bewohner der 430.000-Einwohner-Stadt schöpften Wasser aus Bächen oder schmolzen Schnee, um etwas zu trinken zu haben, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AP vor Ort beobachtete.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, ein Kind sei in Mariupol an Dehydrierung gestorben. Auf den Straßen lägen zahlreiche Leichen verstreut. Die Stadtbehörden kündigten an, sie in Massengräbern beizusetzen. Diese müssen allerdings erst einmal gegraben werden.
Die Bewohner von Mariupol warteten auch am Dienstag wieder darauf, ob ein humanitärer Korridor für die Flucht aus der Küstenstadt am Asowschen Meer zustande kommen würde. Ohne Internet und Telefon nutzten die meisten Autoradios, um sich über den jüngsten Stand zu informieren. Zu empfangen waren aber nur Radiosender aus russisch kontrollierten Gebieten.
Busse mit Symbolen des Roten Kreuzes sollten am Dienstag Wasser, Grundnahrungsmittel und Medikamente nach Mariupol hinein- und Zivilisten wieder herausbringen. Allerdings teilte Selenskyjs Büro mit, die Fluchtroute sei beschossen worden. Es war damit unwahrscheinlich, dass die Evakuierung diesmal gelingen würde. Ob die Lieferungen in Mariupol ankamen, war zunächst unklar.
Angesichts der verzweifelten Lage plündern viele Bewohner von Mariupol die Läden. Neben Essen und Kleidung nehmen einige sogar Möbelstücke mit. Unter den Bewohnern spricht man allerdings nicht von Plünderungen, sondern davon, „einen Rabatt zu bekommen“.
In der Umgebung der Stadt sind prorussische Einheiten nach Angaben aus Moskau weiter auf dem Vormarsch. Kämpfer der selbst ernannten Volksrepublik Donezk seien seit dem Ende einer Waffenruhe bereits knapp einen Kilometer weit vorgedrungen, teilte das russische Verteidigungsministerium am Dienstag mit. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.
Tausende Menschen verlassen die umkämpfte Stadt Sumy durch Fluchtkorridor
Über den mit der russischen Armee vereinbarten Fluchtkorridor haben nach ukrainischen Angaben zahlreiche Zivilisten die Region der Großstadt Sumy verlassen können. Rund 5000 Ukrainer und etwa 1700 ausländische Studenten seien am Dienstag an einen sichereren Ort gebracht worden, sagte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk der Agentur Unian zufolge. Die Fluchtrouten führten etwa nach Poltawa, nach Lwiw (Lemberg) oder in benachbarte EU-Länder.
„Der erste Konvoi von 22 Bussen ist bereits in Poltawa angekommen“, erklärte ein Kiewer Regierungsbeamter am Dienstagabend. Poltawa liegt rund 175 Kilometer südlich von Sumy. Dort seien die Menschen „in Sicherheit“, sagte der Beamte.
Sumy ist die erste von fünf ausgewählten Städten, bei der ein Fluchtkorridor funktionierte. Die Stadt liegt etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Seit Tagen wird Sumy von russischen Truppen angegriffen. Das zentralukrainische Poltawa liegt etwa 170 Kilometer südlich und ist bisher weitgehend verschont geblieben.
Russland hatte mitgeteilt, zur Rettung von Zivilisten aus umkämpften Städten in der Ukraine erneut Fluchtkorridore zu schaffen. Dazu solle am Mittwoch um 8.00 Uhr MEZ eine Waffenruhe in Kraft treten, teilte Generaloberst Michail Misinzew vom Verteidigungsministerium mit.
Moskau stellt einem Agenturbericht zufolge für Mittwoch eine Feuerpause und die Öffnung von Fluchtwegen aus Kiew, Mariupol, Sumy, Charkiw sowie Tschernihiw in Aussicht.
Angriffe auf flüchtende Zivilisten
Die Ukraine hat Russland Angriffe auf flüchtende Menschen in der Stadt vorgeworfen. „Der Feind hat einen Angriff genau in Richtung des humanitären Korridors gestartet“, erklärte das ukrainische Verteidigungsministerium am Dienstag auf Facebook. Die russische Armee habe „Kinder, Frauen und ältere Menschen nicht aus der Stadt gelassen“.
„Solche Aktionen (…) sind nichts anderes als Völkermord“, erklärte das Verteidigungsministerium. Das Außenministerium in Kiew warf Russland einen „Verstoß gegen die Waffenruhe“ vor. „Die russischen Streitkräfte beschießen den humanitären Korridor von Saporischschja nach Mariupol“, fügte das Ministerium hinzu. „Acht Lastwagen und 30 Busse stehen bereit, um humanitäre Hilfe nach Mariupol zu liefern und Zivilisten nach Saporischschja zu evakuieren.“
Sorge um Tschernobyl
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat keine Verbindung mehr zu den Überwachungsgeräten im ehemaligen ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Das gibt die Behörde bekannt. Die Geräte stellen sicher, dass das Nuklearmaterial an seinem Platz ist. Das ehemalige Kraftwerk wurde vor einigen Tagen von russischen Einheiten eingenommen.
Mittlerweile sind nach UN-Angaben mehr als zwei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Die UN zählte zuletzt mindestens 406 getötete Zivilisten, wobei die Zahl laut eigenen Angaben wahrscheinlich viel zu niedrig ist.
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