Droht uns eine neue Flüchtlingskrise?

Der rechte Rand hat zuerst erkannt, dass die Stimmung kippen könnte. Anfang September ging es los mit einem Statement von René Springer, dem sozialpolitischen Sprecher der AfD-Fraktion im Bundestag: „Die meisten Ukrainer haben noch nie ins Sozialsystem eingezahlt, werden aber mit all jenen gleichgestellt, die ein ganzes Arbeitsleben hinter sich gebracht haben, das Land aufgebaut und Kinder aufgezogen haben.“

Alexander Wulfers

Redakteur in der Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Vorher hatte man aus der Partei zu ihrem einstigen Lieblingsthema Flüchtlingspolitik eine ganze Weile lang nur wenig bis gar nichts gehört. Die AfD schien erkannt zu haben: In Zeiten, in denen russische Panzer in die Ukraine rollen, ist mit ihrer sonst üblichen Antiflüchtlingsrhetorik kein Blumentopf zu gewinnen. Im ganzen Land öffneten die Menschen ihre Gästezimmer, viele fuhren mit dem Auto an die Grenze, um Familien abzuholen. Die Neuankömmlinge aus dem Osten taugten nicht zum Feindbild, insbesondere da es sich – anders als 2015 – vornehmlich um Frauen und Kinder handelte. Im April forderte der AfD-Politiker Gottfried Curio gar, man solle mehr Kapazitäten für Kriegsflüchtlinge schaffen, indem man andere, ausreisepflichtige Ausländer abschiebe.

Nun ist mehr als ein halbes Jahr vergangen, seit die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine an den Bahnsteigen der Republik ankamen. Inflation und Gasknappheit kratzen an der so oft beschworenen Solidarität. Von rechts und links außen wird längst infrage gestellt, wie fest Deutschland an der Seite der Ukraine stehen sollte.

Das alles geschieht in einer Zeit, in der die Solidarität ohnehin vor einer neuen Belastungsprobe steht, nicht nur wegen des nahenden Winters. Aus dem ganzen Land ist zu hören, dass die Aufnahmekapazitäten in den Städten und Gemeinden an ihre Grenzen stoßen. Viele Kommunen haben längst handfeste Probleme mit der Unterbringung der Neuankömmlinge. Als Grund dafür haben manche Kommunalpolitiker nun sogenannte „Pull-Effekte“ identifiziert, von denen Flüchtlinge angezogen würden. Gemeint ist, dass ukrainische Kriegsflüchtlinge anders als zum Beispiel Syrer und Afghanen direkt Zugang zur Grundsicherung bekommen und nicht erst ein Asylverfahren durchlaufen müssen.

„Die Menschen fliehen vor dem Krieg, sie kommen nicht aus wirtschaftlichen Gründen.“

Der Präsident des baden-württembergischen Landkreistags, der Tübinger Landrat Joachim Walter, kritisierte in der vergangenen Woche, Flüchtlinge würden „in die soziale Hängematte“ gelockt. Die Bundesregierung müsse „jetzt dringend umsteuern und Pull-Effekte abstellen“. Walter sagte, er habe selbst mit Ukrainern gesprochen, die zunächst in Polen untergekommen seien, aber nach Deutschland weitergezogen seien. Hier bekämen sie mehr Geld, ohne dafür arbeiten zu müssen. Das gefährde eine angemessene Verteilung der Flüchtlinge zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Ähnliche Geschichten höre er auch von anderen Landräten in ganz Deutschland, erklärte Walter gegenüber der F.A.S.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kann dem Argument nichts abgewinnen. So eine Entwicklung sehe sie „gar nicht“, sagte sie im Gespräch mit der F.A.S. „Dann müssten die Ankunftszahlen nach oben gehen, und das tun sie nicht. Polen hat sein Sozialsystem viel früher für Geflüchtete geöffnet, auch die Schweiz, wo die Sozialleistungen ja sehr hoch sind. Es hat dort aber keinen Pull-Effekt gegeben. Die Menschen fliehen vor dem Krieg, sie kommen nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Sie lassen erwachsene Söhne zurück, die eingezogen wurden. Das sind furchtbare Schicksale.“

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